Die Kunst des schönen Sterbens

German edition

English title:
Blissful Life – Peaceful Death
Original title:
Boldogabb élet – Jó halál

Translator:
Hans-Henning Paetzke

Also available in:
Hungarian, Romanian, Russian

 

 

Table of Contents

 

I. Teil: EINFÜHRUNG

II. Teil: LEBEN UND TOD

III. Teil: GEHIRN UND WILLE – VERSTAND UND GEDANKE

  • – Warum besitzen wir keine unserem freien Willen unterworfene Sterblichkeit?
  • – Alleinherrschaft unseres Gehirns über unseren Körper
  • – Tiergehirn – menschlicher Verstand
  • – Selbstschutz und egoistische Habgier unseres Gehirns
  • – Woher stammen die Offenbarungen?
  • – Unterscheiden wir uns in den Dimensionen unserer inneren Welt voneinander?
  • – Begrenztsein unserer bewußten Gedankenwelt – die Unendlichkeit des Unterbewußten

IV. Teil: TOD, TODESANGST, SEIN NACH DEM TOD UND DIE HOFFNUNG AUF EINEN SCHÖNEN TOD IN UNSERER JÜDISCH-CHRISTLICHEN KULTUR

  • – Schöner und schlechter Tod
  • – Hat uns der Ungehorsam der Urahnen den Tod gebracht?
  • – Wohin kommen wir, wohin gehen wir?
  • – Waren die Autoren der Bibel in der Lage, die kontinuierliche Schöpfung, die Evolution, zu erkennen?
  • – Die metaphorische Botschaft der Sintflut und die Herausbildung des Monotheismus
  • – Dürfen wir annehmen, daß Gott Herr über den Tod sei, daß nur er uns abberufen könne?
  • – Ist die metaphorische Interpretation der biblischen Geschichten eine Häresie?
  • – Inwieweit wird unsere Angst vor der Vergänglichkeit durch den Glauben an ein Leben nach dem Tod gelindert?
  • – Warum brauchen wir eine gesetzliche Erreichbarkeit und die Gewißheit eines schönen Todes
  • – Führt die Euthelie zu einer Entwertung des menschlichen Lebens?
  • – Wie lange müssen wir leben wollen?
  • – Die Lehre Jesu von Liebe und einem schönen Tod

V. Teil: EUTHELIE – ERWARTUNGEN, INSTITUTIONEN, BERUFUNGEN, RITEN

  • – Wer könnte uns beim Konzipieren – beim Erzwingen – eines guten Gesetzes in Sachen Euthelie, in Sachen Sterbehilfe zur Seite stehen? Und wie?
  • – Führt eine gesetzlich genehmigte Behandlungsverweigerung zu einem schönen Tod?
  • – Was können wir von den europäischen Beispielen lernen?
  • – Was können wir von den amerikanischen Beispielen lernen?
  • – Was können die Institutionen tun, die den Todeskampf erleichtern, jedoch keine Sterbehilfe leisten?
  • – Dürfen wir den unterstützten Selbstmord für einen moralisch akzeptablen Tod halten?
  • – Darf man von den Angehörigen erwarten, daß sie ihren Liebsten Sterbehilfe leisten?
  • – Dürfen wir von den Ärzten und dem Pflegepersonal erwarten, daß sie den unheilbar Kranken Sterbehilfe leisten?
  • – Wem sollen wir uns selbst und unsere Liebsten anvertrauen, wenn die Ärzte nichts mehr tun können?
  • – Ärzte und Gesellschaft in der Gewalt der pharmazeutischen Industrie und Biotechnologie
  • – Kann die Berücksichtigung materieller Grenzen bei der Krankenversorgung ethisch genannt werden?
  • – Können die Ärzte auch weiterhin die Rolle der “Herren über Leben und Tod” spielen?
  • – Würde die Legalisierung der Sterbehilfe nicht zur Zunahme des Mißbrauchs führen?
  • – Was dürfen wir von Lehre und Institution der Euthelie erwarten?
  • – Kirche, Religion, Euthelie
  • – Wem können die Einrichtungen der Euthelie, die Legalisierung der Sterbehilfe wie nutzen?
  • – Riten zur Annahme des Todes, zum Loslassen des Hinscheidenden und zu einem Sein nach dem Tod

 

 

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I. TEIL

EINFÜHRUNG

Wieviele Menschen seit der metaphorischen Erschaffung von Adam und Eva auf dieser Erde geboren worden sind, wissen wir nicht. Doch zugleich können wir uns dessen sicher sein, daß im unermeßlich langen Lauf der Jahrtausende keine einzige Lebensgeschichte vorgekommen ist, die einer anderen entsprochen hätte. Über die zahllosen Wendungen des Lebens hinausgehend sind wir nur in einem gleich: Alle werden wir für die Vergänglichkeit geboren. In der Biologie des Universums ist uns kein einziger Augenblick vergönnt, der nur uns gegeben wäre. Berücksichtigen wir also lediglich das Woher und das Wohin, woher wir kommen und wohin wir gehen, dann können wir sagen, nie habe es zwischen den Menschen einen Unterschied gegeben und werde es auch nicht geben, unser Schicksal sei vollkommen identisch.

All das scheint ein derartiger Gemeinplatz zu sein, daß wir darüber kaum nachdenken. Manch einer vielleicht niemals. Dabei lebt das Bewußtsein unserer Sterblichkeit schon seit der Kindheit in uns und wird mit dem Älterwerden, dessen ersten Anzeichen, immer intensiver. Das Wissen um unsere Sterblichkeit mochte irgendwann im Laufe unserer Menschwerdung die vom Baum der Erkenntnis gepflückte Frucht gewesen sein, wovon wir im ersten Buch Mose in der Metapher von der Vertreibung aus dem Garten Eden lesen können. Das heißt, aus der paradiesisch glückseligen Wiege unserer Unwissenheit – vielleicht können wir auch sagen: tierischer Unwissenheit – sind wir infolge der Evolution, der Menschwerdung in unserer heutigen Welt angekommen, worin selbst die idealsten Perioden unseres Lebens vom Bewußtsein, daß wir selbst und unsere Liebsten sterblich sind, überschattet werden.

 

Warum Euthelie?

Manchmal überfällt uns ausgerechnet inmitten des Hochgefühls der Liebe, der Freude darüber, den anderen gefunden zu haben, füreinander dasein zu dürfen, oder inmitten des Erfolgs, Angst. Hinter all unseren Phobien lauert die Angst vor der Vergänglichkeit, vor dem Tod. Aus der Sicht unseres diesseitigen Glücks kann also unsere Einstellung zur Vergänglichkeit nicht gleichgültig sein: Betrachten wir sie als Strafe Gottes oder als das natürliche Ende unseres Lebensweges, als Erlösung von den letzten Demütigungen des sich abnutzenden Körpers?

Doch die Todesangst besitzt auch eine andere Komponente, die Angst vor der Agonie, die im Laufe unserer letzten Jahrzehnte und Jahre bedrückende Macht über uns gewinnen kann, sobald wir von den mit dem Alter einhergehenden Beschwerden betroffen sind oder Zeugen werden von den mituntr endlos scheinenden Qualen unserer Liebsten und Freunde, die vergebens auf ihren Tod warten, vergebens einen friedlichen Tod herbeisehnen und um Sterbehilfe flehen.

Die Befürworter der Herbeiführung eines friedlichen Todes berufen sich vor allem auf das Selbstbestimmungsrecht, die Gegner – hauptsächlich die Kirchen – auf die Heiligkeit des Lebens. Einzig Gott gestehen sie das Entscheidungsrecht über Zeit und Art unseres Todes zu. Er befinde auch darüber, ob uns ein qualvoller, erniedrigender Abbau mit einhergehender Hilflosigkeit oder ein schonender und wenig leidvoller Tod im Kreis unserer Lieben zuteil werde.

Wir könnten uns getrost eingestehen, daß die Medizin den Tod längst schon Gottes Händen entrissen hat. Die meisten Kranken werden geheilt, der Todeskampf wird verlängert, stillstehende Herzen werden wieder in Gang gesetzt. Und an all das verschwenden die meisten Menschen kaum einen Gedanken. Den Leidenden gegenüber, die des Lebens überdrüssig sind und sterben wollen, stellen wir uns taub. Oder selbst wenn wir ihre Hilferufe hören, treten wir nicht für die Ablehnung der überholten Gesetze und Rechtsvorschriften ein. Wir akzeptieren die Lehren von Kirchen zur helfenden Nächstenliebe, in denen kategorisch abgelehnt wird, dem Bitten derjenigen nachzukommen, die statt einer künstlichen Verlängerung eines unerträglichen – gar schon mehrmals überlisteten – und Leben nicht mehr zu nennenden Seins um die Gnade eines barmherzigen Todes flehen.

Dank der exponentialen Entwicklung der Biotechnologie können wir Hunderttausende, weltweit vielleicht sogar Hunderte Millionen von Körpern, die kein menschliches Bewußtsein mehr besitzen, fast unbegrenzt lange “am Leben” erhalten. Schon heute haben wir darüber zu befinden, wie lange das Leben künstlich aufrechtzuerhalten sei. Auch in denjenigen Ländern, in denen die Sterbehilfe gesetzlich verboten ist, müssen wir die Mehrheit derer, deren Leben künstlich verlängert worden ist und denen wir zuvor die Gnade eines schönen Todes verweigert haben, in den Tod entlassen, ihnen dazu verhelfen. Ohne die uns schon jetzt zur Verfügung stehenden Instrumente und Mittel der Biotechnologie und Pharmakologie, ohne die heuchlerische Praxis der aktiven, der verhüllten oder der “passiven” Sterbehilfe (wir sparen nicht am Morphium) würden uns allen – den Kranken, deren Angehörigen, der Gesellschaft – durch die künstliche Verlängerung des Lebens der Sterbenden unerträglich große seelische und materielle Lasten aufgebürdet werden. In den meisten Fällen stellt sich also gar nicht die Frage, ob wir einem Sterbenden Sterbehilfe leisten, ob wir ihn sterben lassen, sondern ob wir dies dann tun, wenn er uns darum bittet und noch in der Lage ist, vom Leben, von seinen Liebsten bewußt Abschied zu nehmen, oder erst dann, wenn Ärzte und Pflegepersonal den Zeitpunkt für gekommen halten.

Die Gesetzgeber haben unseren körperlich-geistigen Dualismus bisher vollkommen außer acht gelassen, nämlich daß wir mangels entsprechender Vorbereitung auf den Tod und mangels Beseitigung der Todesangst lediglich von einem Aufhören des Lebens sprechen können, was für sich genommen keinen schönen Tod garantiert. Es heißt, Abschied nehmen vom Leben, von unseren Lieben. Und bei jedem Wendepunkt unseres Schicksals brauchen wir auch für diesen endgültigen Abschied Riten. Nicht nur der Dahinscheidende, auch die Zurückbleibenden.

Für das Zustandekommen der dafür erforderlichen Institutionen und Berufe haben die bisherigen Sterbehilfe-Gesetze nichts getan.

Doch was bedeutet Sterbehilfe heute im allgemeinen Bewußtsein? Abstellen des Beatmungsgerätes, Überdosis von Schmerzmitteln oder Gnadenstoß mit der Injektionsnadel… Euthanasie – einen schönen Tod – nennen wir dies auch dann, wenn niemand zugegen ist, der die Hand des Sterbenden hält und seine Angst lindert. Und es könnte sein, daß die Todesspritze oder das über Tage und Wochen allmählich tötende, überdosierte, “schmerzlindernde” Narkotikum von einem Arzt oder einer Krankenschwester verabreicht werden, die sich noch nie mit der Thanatologie, der Lehre von der Natur und den Ursachen des Todes, der “Wissenschaft” vom Tode, mit der Physiologie und der Psychologie unserer letzten, der zum Exitus führenden Lebensphase beschäftigt haben.

Zu einem derart dürftigen Inhalt, einer derart trostlosen Atmosphäre, einer für viele beängstigenden Bedeutung ist das schöne griechische Wort Euthanasie verkommen. An seinem Klang und seinem Begriffsinhalt werden wir schwerlich etwas ändern können. Dabei könnten die begriffliche Erweiterung des schönen Todes auf dessen Vorbereitung und den Wandel unserer Vorstellung vom Tod, sowie die Riten der letzten Wochen, Tage und Stunden unser ganzes Lebensgefühl umstimmen, die tyrannische und leidvolle Fiktion vom Tod lindern, uns die Todesangst nehmen. Einer solchen inhaltlichen und atmosphärischen Bereicherung kann die heute unter dem Stichwort “Sterbehilfe” von Vorurteilen belastete Kategorie auf gar keinen Fall aufgezwungen werden.

In Angleichung an Euthanasie benutze ich den griechischen Ausdruck Euthelie, der statt auf einen schönen Tod auf ein schönes Lebensende hindeutet, auf den gesamten letzten Abschnitt unseres Lebens, also den Zusammenhang von schönem Leben und schönem Tod herstellt, sich auf das Denken und die Praxis, auf unser gesamtes physiologisches und psychologisches, künstlerisches und kulturelles Instrumentarium erstreckt, letztendlich auf unsere Weltanschauung. Die Euthelie kann von niemandem mit den einstigen Abscheulichkeiten der Nazis und den heutigen Todesengeln in Verbindung gebracht werden. Aber auch mit den Gesetzen, in denen die Selbstbestimmung, das aus unserem freien Willen stammende Recht auf Verweigerung einer Behandlung, eingeschränkt oder den Vorurteilen und dem Willen der in der Annahme des Todes ungebildeten Ärzte untergeordnet wird, hat die Euthelie wenig zu tun.

Natürlich genügt es nicht, dem schönen Tod einen anderen Namen zu geben. Damit schaffen wir noch keinen gesellschaftlichen Konsens, der ein neues Denken über den Tod – den Todeskampf und das Dahinscheiden – bewirken und die für das Erreichen eines schönen Todes notwendigen Gesetze und Institutionen erzwingen könnte. Wir müssen die tief in unserer Kultur wurzelnden Vorurteile und Irrtümer, von denen unsere Todesangst gespeist wird, abstreifen und gemäß unseren neuen, aktuellen Kenntnissen und Fähigkeiten psychologische und moralische Grundlagen suchen und entwickeln, die zur Annahme von Tod und Sterbehilfe führen. Dazu, daß wir endlich fähig sein werden, denjenigen, die sterben möchten, Sterbehilfe zu leisten, statt unsere am Leben hängenden “Feinde” in den Tod zu schicken, womit wir uns insbesondere im zurückliegenden Jahrhundert hervorgetan haben.

Darüber hinaus können wir den Unterschied zwischen Euthanasie und Euthelie vielleicht am deutlichsten wie folgt formulieren: Während wir unter Euthanasie die auf den Körper bezogene Sterbehilfe mittels ärztlicher Assisitenz verstehen, berücksichtigt die Euthelie den Dualismus von Soma und Psyche, von Körper und Geist. Unsere geistige Vorbereitung auf den unvermeidlichen Abschied vom Leben wird in den Vordergrund gestellt. Ja, die körperbezogene Sterbehilfe wird von der Euthelie in einigen Fällen zwar für notwendig gehalten, jedoch nach Möglichkeit nicht eingesetzt.

Die gesetzliche Akzeptanz der Sterbehilfe ist nur insoweit ein notwendiges Element der Euthelie, als wir zur Annahme des Todes das Bewußtsein brauchen, daß wir mit der Hilfe unserer Betreuer auch dann rechnen können, wenn uns das Schicksal unerträgliches und lange andauerndes Leiden aufbürden sollte. Gerade für ein bis in unsere letzten Jahre sich erstreckendes geruhsames und schönes Leben müssen wir wissen, ob wir unserem Selbstbestimmungsrecht legal Geltung verschaffen können, sollte uns eine Krankheit, ein allmählicher Abbau ohne eine solche Hilfe um die letzten Reste menschlicher Würde, um ein im biologischen Sinne zu begreifendes Leben bringen.

Der Begriff der Euthelie soll all das hervorheben, was die letzte Phase unseres Lebens leichter, beschaulicher, versöhnlicher, zufriedener und glücklicher machen kann, letztendlich den Abschied vom Leben, die Aussöhnung mit dem unvermeidlichen Tod. Ein anderes wichtiges Ziel der in diesem Buch empfohlenen Einrichtungen der Euthelie besteht darin, den Mißbrauch, die trotz bestehender Gesetze tagtäglich praktizierte “passive” Sterbehilfe, zurückzudrängen und zu beseitigen, eine Sterbehilfe, die großenteils ohne Wissen des Patienten und oftmals gegen dessen Willen von Ärzten und Pflegepersonal durchgeführt wird. Oder die verschiedenen Methoden der getarnten und nur als barmherzigen Mord zu bezeichnenden aktiven Euthanasie: die Tätigkeit der selbsternannten, sich mitleidsvoll wähnenden Sterbehelfer, der Todesengel.

Doch als erster Schritt zu all dem führen die Aufdeckung und Überprüfung der religiösen und kulturellen Wurzeln unseres Verhältnisses zum Tod, unserer Lebensbewertung und Todesangst. Als erstes befassen wir uns mit den biologisch-physischen und im Anschluß daran mit den mental-psychologischen Aspekten von Leben und Tod sowie deren Zwischenzuständen. Schließlich analysieren und interpretieren wir im Licht unserer heutigen biologischen, physiologischen, psychologischen und gesellschaftswissenschaftlichen Kenntnisse die einschlägigen Geschichten, Metaphern, Lehren und Konsequenzen der als Fundament unserer jüdisch-christlichen Kultur dienenden hebräischen und christlichen Bibel. Vor allem in den fünf Büchern Mose, besonders in der Schöpfungsgeschichte, sowie in den vier kanonisierten Evangelien, allen voran in Christi Abschiedsrede zum letzten Mahl mit seinen Jüngern.

In den letzten Teilen dieses Buches skizziere ich meine moralischen und praktischen Vorbehalte gegenüber den heute schon in mehreren Ländern eingeführten Gesetzen zur Sterbehilfe. Außerdem gehe ich darauf ein, welche Institutionen, Riten und Berufe ich für erforderlich halte, um für uns alle die Euthelie, einen schönen Tod, zu erreichen. Im ersten Teil illustriere ich anhand von zwei Geschichten, daß Abschied vom Leben, Annahme und Erhabenheit des Todes in seltenen Fällen auch schon vor Jahren möglich gewesen sind. Ziel der von mir vorgeschlagenen Euthelie aber ist es, einem jeden von uns die Möglichkeit eines schönen Todes zu gewähren, den Anspruch darauf.

 

Können wir alle Morrie Schwartze sein?

Wer war Morrie Schwartz? Vielleicht eine moderne Verkörperung des biblische Hiob. Er hat sich derart klaglos in die mit seiner Erkrankung einhergehenden Qualen geschickt, in die Hilflosigkeit, daß er ein Vorbild für die weise Zurkenntnisnahme des Todes, für die so erworbene Unsterblichkeit sein könnte.

Das mag sogar seine Absicht gewesen sein. Deshalb teilte er mit seinen Freunden, seinen ehemaligen Studenten, die nicht aufhörten, von ihm zu lernen, das bewußt beobachtete eigene, langsame Sterben. Er, dessen geistiger Zustand nicht gelitten hatte, initiierte Fernsehsendungen, in denen sein allmählicher körperlicher Verfall, sein Sterben festgehalten wurden, doch vor allem die Entstehung eines Buches, worin der Weg zum Tod dokumentiert wurde. Das 1997 in Amerika unter dem Titel Tuesdays with Morrie erschienene Buch machte Morrie weltberühmt. Es wurde in einunddreißig Sprachen übersetzt und in sechsunddreißig Ländern herausgegeben. Die Konzeption und das Verfassen des Manuskripts überließ er Mitch Albom, seinem einstigen Lieblingsschüler.

Obgleich wir Morrie bewundern und er in den Augen seiner Leser eine Art Heiliger sein könnte, liegen die Umstände seines Lebens, seiner Krankheit und seines Todes doch weit weg von den Exisztenzbedingungen, dem Sterben, den typischen Altersleiden und materiellen Problemen unserer Tage.

Wir brauchen Gesetze und Rechtsvorschriften, Institutionen, Berufe und Riten, die einen menschenwürdigen und schönen Tod für jedermann in erreichbare Nähe rücken. Mir geht es nicht nur um jenes privilegierte Tausendstel, das über einen geistigen und materiellen Reichtum sowie einen entsprechenden Freundeskreis verfügt, so daß ein schöner Tod auch ohne institutionelle Hilfe vorstellbar ist. Und wenn schon nichts mehr hilft, dann ist vermutlich auch die gesetzwidrige Sterbehilfe eine Möglichkeit. Oder der Privilegierte läßt sich in ein Land transportieren, wo man ihm wunschgemäß legale Sterbehilfe gewährt. Oder wenn er nicht vor den Leiden des Todeskampfes, sondern vor der Vergänglichkeit zittert, dann kann er seinen Körper in der Hoffnung auf eine Wiedererweckung einfrieren lassen. Morrie ist viel zu intelligent, gebildet und weise gewesen, als daß er an eine Rückkehr geglaubt hätte. Und vielleicht hätte er sich einen derart selbsttäuschenden Wahnsinn finanziell auch gar nicht leisten können.

Ein Millionär war Morrie nicht, doch als Professor an einer der berühmtesten und reichsten Universitäten der Welt (Brown University) überstieg sein Jahreseinkommen in den neunziger Jahren gewiß ein amerikanisches Durchschnittsgehalt. Während seiner Krankheit arbeitete seine Frau am Massachusetts Institute of Technology, das ebenfalls zu den Spitzenuniversitäten gehört. Beider Jahreseinkommen mag die Hunderttausend-Dollar-Grenze bei weitem überschritten haben. Und es ist anzunehmen, daß sie, wie jeder Universitätslehrer und desen Familie, Mitglieder bei einer sehr guten privaten Krankenversicherung gewesen sind.

Als Morrie wegen seiner unheilbaren Krankheit zusehends hilfloser geworden war, halfen ihm nicht nur Krankenschwestern bei der Bewältigung des Alltags, sondern auch anderes Fachpersonal – vom Masseur bis hin zum Meditationstrainer. Nicht zu reden von Schlafmitteln, Medikamenten zur Behandlung der auftretenden Symptome und Komplikationen, zur Streßbekämpfung und Schmerzlinderung. Die Pflege, wie auch der Autor erwähnt, hat in der letzten Phase der Krankheit sämtliche Ersparnisse der Familie Morrie geschluckt. Sogar der Vorschuß unbekannter Höhe, der für die von M. Albom an vierzehn aufeinanderfolgenden Dienstagen meist auf Tonband aufgezeichneten Gespräche mit Morrie gezahlt worden ist, ist von den enormen Kosten für die Behandlung in seinem Haus verschlungen worden. Bedenken wir, daß der allmählich immer weniger werdende Professor durch die mit ihm gedrehten und in den Abendstunden ausgestrahlten Fernsehaufnahmen von mehreren hundert Millionen Menschen gesehen wurde, wodurch er in ganz Amerika bekannt geworden war, dann können wir davon ausgehen, daß die Behandlungs- und Pflegekosten über die Versicherungsleistungen hinausgehend mehrere hunderttausend Dollar verschlungen haben müssen.

So ergriffen ich von Morries geduldig ertragenem Leiden auch gewesen bin, von seinem stoischen Sich-Fügen in den unvermeidlichen Tod, so ging es mir doch ständig im Kopf herum: Schön und gut, daß es auch in der Zeit gesetzlicher Verbote Sterbehilfe zu leisten, die mit dem Selbstbestimmungsrecht der Sterbenden ihren Spott treiben, Menschen gibt, um die man sich kümmert, deren Todeskampf einen Sinn bekommt, denen ein schöner Tod beschieden ist. Während die Sterbenden meist nur vollgestopft mit Betäubungsmitteln gelagert und keineswegs betreut werden, während das Gesundheitswesen mit immer größeren Finanzproblemen zu kämpfen hat, ist es jemandem gelungen, daheim zu sterben: mit Hilfe hervorragenden Pflegepersonals, unter der Assistenz von Betreuern, die zugleich die Rolle eines Privatsekretärs übernahmen. Ein ganzes Heer von Freunden garantierte trotz der krankheitsbedingt zunehmend schwerwiegenden Einschränkungen menschenwürdige Rahmenbedingungen.

Doch wievielen Menschen sind solche Möglichkeiten gegeben? Einem unter tausend? Einem unter zehntausend? In Amerika besitzt einer von zehntausend eine Privatversicherung, die finanzielle Deckung bietet, um über Monate oder gar Jahre bis zur Stunde seines Todes eine vergleichbare häusliche Pflege zu garantieren. Ohne daß der Lebensgefährte, die Kinder ihren Beruf aufgeben, sich aufopfern müßten. Was den meisten Sterbenden natürlich Gewissenskonflikte bereitet.

Morrie brauchte keine Euthelie, auch nicht die Dienste der in Amerika gleichfalls blühenden Hospize, deren Pflege sich meist nur auf einige Stunden des Tages beschränkt. Ihm war es dennoch vergönnt, im eigenen Heim zu sterben. Er brauchte auch niemandes Sterbehilfe. Im Gegenteil, er half anderen – seinen jungen Freunden und ehemaligen Schülern -, sich mit seinem Tod und dem Bewußtsein auszusöhnen, daß ihr eigener Tod unvermeidlich sei, was zu einem erfüllteren, glüklicheren und emotional reicheren Leben beitragen mochte. Infolge seiner sozialpsychologischen Fachkenntnis war er sich selbst ein guter Sterbehelfer.

Wer war Morrie Schwartz? Kein gewöhnlicher Universitätsprofessor. Als Gesellschaftswissenschaftler beschäftigte er sich mit den zwischenmenschlichen Beziehungen, den Fragen von Leben und Tod. Über einen Zeitraum von zwanzig Jahren hatte er Sozialpsychologie gelehrt. In den sechziger Jahren während der Studentenrevolte und auch danach, als das traditionelle Lehrer-Schüler-Verhältnis von freundschaftlichen Beziehungen zwischen Professor und Studenten abgelöst wurde. Außerordentlich bereitwillig nutzte Morrie in seiner Lehrmethode diese Art Verbindung, die er mit vielen Studenten auch nach dem Ende seiner Universitätslaufbahn aufrechterhielt. Kein Wunder, daß sich seine Vertrauten und einstigen Studenten in den letzten Lebensmonaten die Klinke zu seinem Arbeits- und Sterbezimmer in die Hand gaben, nachdem die Nachricht des von ihm untersuchten und mit seinen Freunden geteilen Todeskampfes über das Fernsehen und die Printmedien nahezu jeden erreicht hatte. Unter ihnen der Chronist der Geschichte seines Sterbens. Über vierzehn Wochen war er jeden Dienstag von Detroit nach Boston geflogen, um einige Stunden mit seinem ehemaligen Professor, der nun erneut sein Lehrer geworden war, zu verbringen. Sie beide betrachteten die Beobachtung dieses allmählichen Schwindens und Vergehens als einen Universitätslehrgang, als eine zur Publikation bestimmte und schließlich auch erschienene Studie. Eine für beide zugleich nicht nur intellektuelle, sondern auch emotionale Bereicherung ihrer Inteligenz.

Zu Recht durfte Morrie annehmen, daß er mit der beispielhaften Akzeptanz des nahen Todes auf die Studenten einen größeren Einfluß ausübte, als ihm das mit seinen einschlägigen Kursangeboten an der Universität je gelungen war.

Dürfen wir Morrie also als unser Vorbild betrachten?

Teils, teils. Ein Vorbild ist er in der Frage – wovon bei einem schönen Tod die Rede sein kann -, ob der Tod als Vollendung unseres Leben zu betrachten sei. Morrie Schwartz gleicht den Heiligen der katholischen Kirche, die keineswegs immer alltägliche Menschen gewesen sind, sondern Könige, deren Sprößlinge oder einstige Wüstlinge, die sich ins Kloster zurückgezogen haben, um Buße zu tun, ebenso Nonnen, die vor den Herausvorderungen des Familienlebens geflüchtet sind.

Morrie zeigt uns die Erfüllung einen schönen Todes. In der Frage allerdings, wie ein schöner Tod zu erreichen sei, ist der Weg des Professors nicht zu verallgemeinern. Sein Todeskampf hatte ein Ziel: die Analyse und das Studium des Sterbens. Nicht in erster Linie die Biologie, als vielmehr die Psychologie des Sterbens.

Mit Hilfe eines ehemaligen Schülers schrieb und ließ er ein Lehrbuch über das Sterben schreiben. Teilweise diktierte er den Text, den Morrie und Mitch als Lehrbuch der Thanatologie betrachteten. Derart, daß sie das erste Kapitel The Syllabus, der Lehrplan, und das letzte Graduation, feierliches Überreichen des Diploms, überschrieben. Gerade wegen der Seltenheit und Einmaligkeit der Situation konnte Mitch Alboms Buch Tuesdays with Morrie, dessen Untertitel “Ein alter Mann, ein junger Mann und die größte Lektions seines Lebens” lautet, ein Weltbestseller werden. Vieles können wir aus dieser Arbeit lernen, eines allerdings nicht, nämlich wie wir unter den eigenen Gegebenheiten ohne neue Gesetze und Institutionen sowie entsprechende menschliche Hilfe auf einen schönen Tod hoffen dürften.

Auch Morries Krankheit kann keineswegs als so typisch bezeichnet werden, daß wir die Ergebung in seinen allmählichen Verfall als ein für alle geltendes Beispiel betrachten sollten. Er litt an einer sehr seltenen und eigentümlich voranschreitenden Krankheit, bekannt auch unter dem Namen Lou Gehrig Syndrom, an der amyotrophen Lateralsklerose.

Aber auch der Verlauf dieser sehr seltenen, mit Nervendegeneration und Muskelschwund einhergehenden Krankheit war bei ihm atypisch. Morrie war schon über siebzig, befand sich an der Neige seines reichen Lebens, als er bewegungsunfähig geworden war und binnen weniger Monate starb. Im allgemeinen sucht sich diese progressive Krankheit ihre Opfer unter viel jüngeren Menschen. Im Vollbesitz ihrer Kräfte werden sie plötzlich hilflos und versterben oft erst nach jahrzehntelangem Leiden. Dennoch werden die meisten von ihnen nicht älter als fünfzig bis sechzig Jahre.

Den Namensgeber der Krankheit, einen der besten Baseballspieler aller Zeiten und vielleicht einen der demütigsten und in Amerika beliebtesten Athleten überwältigte der Muskelschwund auf dem Gipfel seiner Karriere, im Alter von sechsunddreißig Jahren, und raffte ihn drei Jahre später dahin. Oder war sein Lebenswille gebrochen? Ein bewegender Augenblick der Sportgeschichte, als Lou Gehrig am 4. Juli 1939, im letzten Friedensjahr, gelegentlich des Unabhänigkeitstages seine Abschiedsrede hielt. Im Yankee Stadion erklärte er vor 62000 Fans: “Ich halte mich für den glücklichstens Menschen der Welt.” Damit sagte er Dank all denen, deren Zuneigung und Mitgefühl ihm außerordentlich viel bedeuteten.

Nicht nur Lou Gehrig ist es zu verdanken, daß diese Krankheit besonderes Interesse fand. Als Morries Diagnose gestellt wurde, war Stephen Hawking, der brillante englische Pysiker, der von seinem elekronischen Rollstuhl aus populäre Vorträge hielt, bekanntermaßen schon wegen der gleichen Erkrankung bewegungsunfähig. Als schließlich seine schwerfällig artikulierten Worte nurmehr von den nächsten Freunden verstanden wurden, konnte er sich nur noch mittels Dolmetscher verständlich machen. Innerhalb von zwanzig Jahren hatte sich sein Zustand derart verschlechtert, daß er nicht mehr reden konnte, weshalb er seine Vorträge mit Hilfe eigens für ihn entwickelter und auf verschiedene Weise gesteuerter Sprachsynthetisatoren hielt und ebenso seine Bücher diktierte.

Natürlich hebt sich auch Hawking von der Allgemeinheit ab. Seinen Fähigkeiten, der dadurch gewonnenen Position, seinen Verbindungen, dem großen Freundeskreis hat er es zu verdanken, daß er Unterstützung zu erwarten hat, die weit über die Möglichkeiten eines Durchschnittsmenschen hinausgehen. Hierbei spielt auch eine Rolle, daß niemand vermutet, daß diese unheilbare Krankheit ansteckend sei. Ganz im Gegensatz beispielsweise zu AIDS, das zum Verschwinden vieler Freunde führt, insbesondere damals, als der Infektionsmechanismus und die Art der Immunität noch weniger bekannt waren als heute. Doch auch heute würden wenige für ihren an AIDS sterbenden Freund das tun, was Mitch und die anderen für Morrie getan haben; sie wischten ihm den aus den Mundwinkeln triefenden Speichel ab, halfen ihm beim Naseputzen. Noch dazu ohne Gummihandschuhe und Widerwillen.

Morries Beispiel kann uns davon überzeugen, daß ein Mensch, der dank erworbenem Wissen auf das Sterben vorbereitet ist und über eine entsprechende materielle Basis verfügt, mit der Unterstützung seiner Familie und Freunde fähig ist, die Angst vor dem Tod zu überwinden. Die zu schaffenden Institutionen der Euthelie lassen ein schönes Lebensende in greifbare Nähe rücken. Die Kunst des schönen Sterbens muß auch für diejenigen zugänglich werden, deren sozialer Status und gesellschaftliche Unterstützung sich nicht am Niveau von Morrie Schwartz, Stephen Hawking oder Lou Gehrig messen lassen.

 

Schlüssel für ein schönes Leben und einen schönen Tod

Im Dezember 1982 war Barney Clark schon längst unfähig, ein normales Leben zu führen. Einen Monat zuvor noch, nachdem ihn die Familienangehörigen vom Schlafzimmer, das im Obergeschoß lag, die Treppen hinunter ins Eßzimmer geschleppt hatten, schaffte er es, ein paar Minuten zu sitzen und vor dem Abendbrot das traditionelle Dankgebet zu sprechen. Doch alsbald mußte er sich wieder hinlegen. Trotz intensiver medikamentöser Behandlung funktionierte sein Herz mit einiger Mühe lediglich im “Leerlauf”, das heißt, es vermochte nur den für die Aufrechterhaltung der minimalen Lebensfunktionen erforderlichen Blutkreislauf in Gang zu halten. In diesem Zustand stimmte er einer ihm angebotenen, in einen Sciens fiction gehörenden, Operation zu: anstelle des eigenen schrumpfenden Herzens der Implantation eines künstlichen, mechanischen, das heißt von einer Maschine angetriebenen Herzens.

Barney hatte damals schon Versuchstiere gesehen, die mit einem ähnlichen künstlichen Herzen lebten, mit einer Pumpe, die das Blut zirkulieren ließ, doch er wußte, daß die Tiere vor dem Eingriff vollkommen gesund gewesen waren, während er schon seit Monaten mit dem Tod rang. Auf dieses weltweit erstmals durchgeführte medizinische Experiment, jemanden ohne ein menschliches Herz aus Fleisch und Blut am Leben zu erhalten, ließ er sich nicht unbedingt um seiner selbst willen ein, nicht um das eigene Leben zu verlängern. Sein Leben war dank ärztlicher Kunst schon um Jahre verlängert worden. Nun war die Reihe an ihm, die Wissenschaftler, die Biotechnologen einen großen Schritt voranzubringen, damit die Lösung mit der Herzmaschine irgendwann perfekt funktionieren würde.

Die physiologischen und psychologischen Wirkungen des von einem Außenkompressor angetriebenen künstlichen Herzens waren unberechenbar. In den Tierversuchen war der gesunde Organismus fähig, die unvermeidliche Verletzung der Blutzellen zu kompensieren. Auch zeigen die Tiere nicht immer die Anzeichen durchgemachten Stresses und erlittener Schmerzen. Doch wie würde der strapazierte und geschwächte menschliche Organismus auf den Eingriff reagieren?

Neben der Biologie sollten wir nicht vergessen, wie tief der Glaube in uns wurzelt, wonach das Herz das Zentrum unserer Empfindungen, ja, unserer Seele sei. In den Medien wurden mehr als unglaubliche Fragen in Verbindung mit der Gefühlswelt des Spenderherzens aufgeworfen, inwieweit diese weiterleben würden. Und natürlich stellte sich die entscheidende Frage, nämlich ob die Ärzte einem lebenden Menschen dessen Herz entnehmen dürften, einem Menschen, der vielleicht noch einige Tage oder Wochen leben könnte. Was würde sein, sollte das künstliche Herz versagen?

Obwohl auch das eigene Herz kaum funktionierte, mußte das Chirurgenteam warten, weil die Ethikkommission der Ärzte entschieden hatte, das Herz dürfe erst dann entnommen werden, wenn der Patient bereits in den letzten Zügen liege.

So kam es kurz vor Weihnachten, am 21. Dezember 1982 zur Operation. Barney Clark mußte eine Erklärung unterschreiben, derzufolge er sich über sämtliche Risiken im klaren sei und trotz aller möglichen Konsequenzen bereit sei, den Eingriff vornehmen zu lassen. Gemäß den Vorschriften mußte er die Erklärung vierundzwanzig Stunden später erneut unterschreiben; als Beweis dafür, daß er sich keines bsseren besonnen habe.

Was für vierundzwanzig Stunden! Barney lag in einem abgedunkelten Zimmer. Nicht einmal seine Frau durfte zu ihm, denn das Herz des Kranken hätte auf Lärm, Licht, Bewegungen, auf den geringsten Reiz in Arrhythmie verfallen können, was in seinem Zustand verhängnisvoll gewesen wäre. Das Operationsteam, bestehend aus mehr als einem Dutzend Koryphäen, war die ganze Nacht im Krankenhaus geblieben, denn in Salt Lake City, wo sich die Zentrale der Universitätsklinik des Staates Utah befindet, gingen gerade starke Schneefälle nieder, und die Ärzte waren sich dessen bewußt, daß sie nach Ablauf der 24-Stunden-Frist, wenn Mr. Clark auch die zweite Erklärung unterschrieben haben würde, keine einzige Minute verlieren dürften.

In der Aula der Klinik warteten während der Operation mehr als zweihundertundfünfzig Reporter. Die ganze Nacht über und noch länger. Sie wollten den Augenblick nicht verpassen, wenn der Mensch ohne Herz zu sich kommen würde, um zu erfahren, ob er etwas sagen und welches seine ersten Worte sein würden. Würde er es tolerieren, daß in seiner Brust statt eines menschlichen Herzens, an dessen Klopfen er sich schon im Mutterleib gewöhnt hatte, eine von Menschen fabrizierte Pumpe tickt und tuckert?

Mr. Clark überlebte die Operation, doch auf seine Antworten mußte man noch lange warten. Viele Krisen waren zu bewältigen. Sowohl von ihm als auch von seinen Betreuern. Doch nicht jene Krise, wovor alle am meisten Angst hatten: das technische Versagen des Herzens oder eine Abstoßreaktion des Körpers. Oder eine in der Geschichte der Heilkunde und der Psychologie bisher unbekannte Reaktion von Körper und Seele, die von den Medizinern vielleicht nicht beherrschbar und vom Patienten nicht zu ertragen sein würde. Was würde sein, wenn Barney das Bewußtsein, daß sein Herz nicht mehr existierte, einfach nicht ertragen könnte? Was würde sein, wenn sein Lebenswillen versiegte, wenn er sein künstlich verlängertes Leben, das er eigentlich schon einmal verlassen hatte, als eine unerträgliche Last empfände?

Dr. DeVries, der Chef des Ärzteteams, rechnete mit allen vorstellbaren und unvorstellbaren Möglichkeiten; er überreichte Mr. Clark einen Schlüssel, mit dessen Hilfe er jederzeit die Tätigkeit des Herzens abstellen könnte, das heißt den Kompressor, durch den das mechanische Herz in Gang gehalten wurde. An die eingebaute Herzpumpe schlossen sich sechs Meter lange Rohre an, durch die sein Bewegungsspielraum stark eingeschränkt war.

Barney Clark lebte mit seinem Maschinenherzen 118 Tage länger, als es die Natur, das Schicksal, Gott vorgesehen hatten. Den Schlüssel benutzte er nicht. Das Bewußtsein, daß er den Schlüssel seines Lebens in der Hand habe, wenn er sich nun schon einmal darauf eingelassen hatte, das eigene Herz zu überleben, beruhigte alle.

Haben diese 118 Tage all das Leiden, all die Sorgen aufgewogen? Die Konfrontation mit dem Unbekannten? Den langen Todeskampf? Den zweifachen Tod? Für Barney Clark wohl kaum, auch wenn ihm durchaus noch schöne Tage beschieden waren. Er wollte nicht nur bekommen, sondern auch geben. Für das mechanische Herzprogramm bedeuteten die 118 Tage einen enormen Gewinn. Man sollte nicht vergessen, daß an der biotechnischen Entwicklung des mechanischen Herzens schon seit mehr als einem viertel Jahrhundert von mehreren Ärzte-, Ingenieurs- und Technikerteams gearbeitet worden war und auch heute noch wird.

Allerdings geht es dabei nicht mehr unbedingt um die Ersetzung des ganzen Herzens. Viele hundert Menschen sind schon durch eine mechanische Pumpe, die ihnen zur Unterstützung ihres unbefriedigend funktionierenden Herzens implantiert worden ist, am Leben erhalten worden, bis ein entsprechender menschlicher Herzspender gefunden werden konnte. Für diese Herzpumpen gibt es keinen Schlüssel mehr, durch den deren Tätigkeit abgestellt werden könnte. Der Weg, ein solches verlängertes Leben zu verlassen, ist beschwerlich. Der dem Rachen des Todes entrissene Kranke muß dem Tod erneut ins Auge schauen. Der Arzt muß zur Kenntnis nehmen, daß derjenige, den er vor dem ersten Tod gerettet hat, eines Tages doch sterben muß. Und es kann sein, daß dem zweiten Tod tausendfach schwereres Leiden vorangehen wird.

***

Dr. DeVries hat Barney Clark ein zweites Leben geschenkt und ihm zugleich gestattet, den endgültigen Tod selbst herbeizuführen. Mr. Clark hat von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht. Da er die unvorhersehbaren Qualen, den ihm bevorstehenden Tod, der langsam eintreten und erniedrigend sein könnte, nicht wirklich einschätzen konnte, hatte er das ihm zugestandene Recht, über das Ende all dessen selbst zu entscheiden, gewiß verdient; vor allem das Bewußtsein, daß er sein Leben in Würde beenden könnte, wann immer er es wollte, sollte er die Schmerzen und die Ohnmacht des Todeskampfes nicht mehr ertragen.

Es stellt sich die Frage, ob nur ein einziger Mensch, dem ein zweites Leben gegeben ward, auf einen schönen Tod hoffen darf, auf ein Ende, das ihm erlaubt, seine Würde zu bewahren. Dr. DeVries, der meines Wissens einzige Arzt, dem es möglich gewesen war, seinem Patienten einen Schlüssel in die Hand zu geben, um sein Lebenslicht auszuschalten, wurde danach befragt, was er von Sterbehilfe halte. Er antwortete darauf, es sei vorgekommen, daß er sich darüber im klaren gewesen sei, daß er einem hoffnungslos Leidenden Sterbehilfe leisten müßte, doch getan habe er das nie. Das Gesetz verbiete ihm das. Nicht das in uns existierende Naturgesetz, der innere Wegweiser, Liebe und Mitgefühl, sondern das vom Gesetzgeber ausgesprochene Verbot.

Wenn wir Menschen am Leben halten, die ohne unsere Einmischung sterben würden, wenn wir Barney Clarks und viele andere ins Leben zurückholen, die es allein nicht geschafft hätten, dann könnten wir auch sagen: Wenn wir Gottes Händen den Tod entreißen, dann sollten wir vielleicht darüber nachdenken, mit welcher Berechtigung wir uns den Schlüssel der Selbstbestimmung streitig machen. Die Selbstbestimmung ist nicht nur ein Weg, der zu einem würdevollen Ende führt, sondern ermöglicht uns auch ein glücklicheres Leben mit weniger Angst vor dem Tod.

 

II. TEIL

LEBEN UND TOD

Wann beginnt das Leben eines Menschen, und wann endet es? Aufgrund welcher Kriterien stellen wir den biologischen Tod fest? Den physischen Tod, den Hirntod, den geistigen Tod? Ist ein Mensch tot gewesen, den ärztliche Kunst “vom Tod ins Leben zurückgeholt” hat? Gibt es Zustände zwischen Leben und Tod, das heißt Zwischenzustände? Gibt es physiologisch, psychologisch oder jenseitig bedingte Erlebnisse in Todesnähe? Können wir alle einer Euphorie teilhaftig werden, durch die unsere Todesangst gelindert und das Sterben erleichtert wird? – Dies nur einige herausgegriffene Beispiele aus der Vielfalt biologischer (physiologischer) Fragen, worauf jeder für sich eine Antwort finden sollte, eine ihm in seinem kulturellen Umfeld entsprechende Antwort, bevor wir in den folgenden Kapiteln auf die geistigen, seelischen, spirituellen und transzendenten Projektionen von all dem sowie auf die praktischen Fragen der Euthelie, der Kunst des schönen Sterbens, und der Sterbehilfe eingehen.

In meinen Ausführungen geht es mir nicht darum, dem Leser meine im Laufe vieler Jahre entwickelten Anschauungen aufzuzwingen. Stattdessen bin ich bemüht, Auffassungen anzuzweifeln, die mir einst vermittelt worden sind beziehungsweise die ich als Teil meiner katholischen Erziehung, unserer jüdisch-christlichen Kultur, unserer westlichen Zivilisation gedankenlos akzeptiert habe. Ich will meine Leser dazu bewegen, ihre vielleicht auf ähnliche Weise erworbenen Anschauungen einer Bestandsaufnahme und eventuellen Revision zu unterziehen, um sich neuen Ideen zu öffnen. Das scheint besonders wichtig zu sein, wenn wir uns mit einem Themenkreis beschäftigen wollen, der über Jahrhunderte tabuisiert oder heuchlerisch verschwiegen worden ist, wovon wir jedoch früher oder später alle auch selbst betroffen sein werden: vom Todeskampf und Tod, von der Annahme oder Ablehnung aktiver Sterbehilfe.

 

Vom Beginn menschlichen Lebens

Das Kriterium für den Beginn menschlichen Lebens hat sich ebenso wie unser Verhältnis zum Tod immer wieder verändert. Das wird vermutlich auch in Zukunft geschehen. Nicht anders steht es um die Frage, nach welchen Kriterien wir das Eintreten des Todes definieren. Mit anderen Worten: Was halten wir für den Beginn und was für das Aufhören mnschlichen Lebens?

Da wir zweigeteilte Wesen sind, biologisch den Tieren vergleichbar, doch geistig uns von ihnen abhebend, fällt das Ende unseres Menschseins nicht unbedingt mit unserem biologischen Tod zusammen. Dies selbst dann nicht, wenn wir den Hirntod zu den Kriterien des biologischen Todes rechnen.

Was verstehen wir unter Hirntod? Wenn die durch den Schädel meßbare elektrische Aktivität unseres zentralen Nervensystems unter ein bistimmtes Niveau sinkt, sprechen wir vom Hirntod. Eines ist sicher: Bei dem Hirntoten funktionieren keine geistigen Funktionen mehr. Das bedeutet allerdings nicht, daß derjenige, der nicht für hirntot erklärt wird, geistig als Mensch, auf einem Niveau, das eines Menschen würdig wäre, “funktionieren” muß. Wenn aber die Hirnfunktionen vollkommen aufgehört haben, ist der Körper ohne künstlichen Eingriff, ohne Beatmung beispielsweise, zum Tode verurteilt. Ebenso zum Tode verurteilt ist auch das Gehirn, wenn das Herz stehen bleibt. Es sei denn, ärztliche Kunst und Technologie mischen sich ein.

Diese künstlichen Eingriffe galten schon im vergangenen Jahrhundert als Routine und derart effektiv, daß wir es nicht länger für ein Wunder halten, wenn wir jemanden zum Leben erwecken, den man einst für tot erklärt hätte. Mit Hilfe von Organtransplantationen können wir ein oder mehrere Organe eines Verstorbenen über Jahre am Leben erhalten, obwohl wir ihn schon längst zur letzten Ruhe gebettet oder seine Asche im von ihm geliebten Garten verstreut haben. Die neuzeitliche medizinische Technologie verändert auch den Begriff des biologischen Ichs, zumal zunehmend mehr Mitmenschen von Organen am Leben erhalten werden, die von unterschiedlichen Genbeständen gesteuert werden.

Die beschleunigte Entwicklung, die häufigere und drastischere Anwendung der Molekulargenetik, der Medizin und der Biotechnologie, die Möglichkeit eines vorübergehenden Todes, die Zustände zwischen Sein und Nichtsein fordern ein viel tieferes Verständnis des biologischen Begriffes vom personalen Sein. Um Anfang und Ende menschlichen Lebens zu definieren, müssen wir Kriterien formulieren, in denen auch die noch zu erwartenden Entwicklungen der Medizin Berücksichtigung finden. Gehen wir davon aus – etwas anderes bleibt uns gar nicht übrig -, daß unsere Überlegenheit dem Tier gegenüber im Geistsein besteht, weit über unsere typischen physischen Eigentümlichkeiten reichend, dann müssen wir, weit über die biologischen Begriffe und die darauf aufbauenden und fast täglich sich vermehrenden Kriterien hinausgehend, darüber nachdenken, inwieweit unser Menschsein mit unserem biologischen und inwieweit mit unserem geistigen Tod ein Ende nimmt.

 

Biologische Kriterien für den Anfang und das Ende
des Lebens – von der Antike bis in unsere Tage

Mangels bestimmender und tieferer Kenntnisse (wie der Antigenreaktivität der Eiweißstoffe, der Zahl und Form der Chromosomen, der DNS-nukleotiden Sequenz) vermochten unsere Ahnen das Menschsein, unser individuelles biologisch-physisches Ich, nur aufgrund äußerer Merkmale wie Körperform, Gesicht, Stimme und in noch graueren Vorzeiten vielleicht aufgrund des Geruchs zu erkennen. Die Stimme aber läßt sich nicht ständig beobachten, und auch die Form verändert sich nicht sogleich mit dem Eintreten des Todes. Bestimmendes und wahrnehmbares Kriterium des Lebens war also die Bewegung, inklusive des spürbaren Atems und Herzschlags. Und zumindest in moderneren Zeiten halten wir die weite, lichtstarre Pupille, die Reflexlosigkeit der Iris, wenn wir die Augen grellem Licht aussetzen, für ein wichtiges Moment, um den Tod festzustellen.

Die Betonung liegt auf dem Element des Spürbaren! Denn ohne die entsprechenden Instrumente sind zahlreiche Menschen, deren flacher Atem und schwacher Herzschlag nicht wahrnehmbar war, die ins Koma gefallen waren, begraben worden. Noch im 19. Jahrhundert gab es Menschen, die sich um das Handgelenk einen Strick binden ließen, der vom Sarg aus mit einer am Grabholz befestigten kleinen Glocke verbunden war, die, wie sie hofften, ertönen würde, sobald sie unter der Erde zu sich kommen sollten.

Möglicherweise gehört die Geschichte eines gelähmten, jedoch bei Bewußtsein befindlichen Menschen, der unfähig war, ein Lebenszeichen von sich zu geben und den in seiner Ohnmacht schließlich eine hervorquellende Träne davor gerettet hat, lebendig begraben zu werden, in den Bereich der Legende. Ob Wahrheit oder Märchen, das ist fast schon einerlei, entscheidend ist hierbei die Bedeutung von Bewegung und Bewegungslosigkeit, ob ein Mensch für lebend oder tot gehalten wird. Fast alle anderen Lebenszeichen schienen an ein Wunder zu grenzen und wurden uns als Legende überliefert.

Die totale Lähmung, während der einer kein Lebenszeichen von sich geben kann, ist tatsächlich ein existierender, medikamentös, insbesondere durch Narkosemittel, künstlich hervorrufbarer, schrecklicher Zustand.

Davon haben Menschen Zeugnis abgelegt, die sich für Versuche mit Curare zur Verfügung gestellt haben, dem für Pfeilspitzen aus Pflanzen hergestellten Gift der Indianer des Amazonas, das zu einer totalen Lähmung der quergestreiften Muskulatur führt. Dieses bei bestimmten chirurgischen Eingriffen normalerweise nur zusammen mit einer Narkose benutzte Mittel rief bei Versuchssubjekten, deren Bewußtsein nicht ausgeschaltet wird, wegen eines totalen Gefühls der Ohnmacht eine fast unerträgliche Todesangst hervor. Bei späteren Versuchen mußte sichergestellt werden, daß die Versuchspersonen den Kontakt mit denen aufrechterhalten konnten, in deren Hände sie ihr Leben gelegt hatten. Als ihnen das Curare in die Vene des einen Armes gespritzt wurde, legte ihnen das medizinische Personal am anderen Arm einen Druckverband an, um den Blutkreislauf zu unterbrechen, damit die Muskeln, von denen die Finger bewegt werden, nicht gelähmt wurden. So konnten zuvor verabredete Zeichen mit den Fingern gegeben werden, sofern die Probanden ihre totale, todesähnliche Ohnmacht nicht mehr ertragen konnten.

So selten auch die Rückkehr vorübergehend bewegungsunfähiger Menschen vom Scheintod gewesen sein mag, die erlebten und beschriebenen Qualen haben die Angst davor, lebendig begraben zu werden, tief in das Bewußtsein vieler Generationen eingegraben. Es ist durchaus vorstellbar, daß auch die Horrorgeschichten solcher vom “Scheintod Auferstandenen” Bestandteil des allgemeinen Bewußtseins geworden sind, als wäre jene scheußliche Ohnmacht ein unausweichlicher Bestandteil des Sterbens. Das erhöhte natürlich nur noch die Angst vor dem Tod.

Um das Sterben und das Sein nach dem Tod zu verstehen, müssen wir uns eingehend mit dem Prozeß der Menschwerdung beschäftigen. Dies auch deshalb, weil über Jahrtausende die selbständige und wahrnehmbare Bewegung auch für den Anfang des Lebens gehalten wurde. Nach Aristoteles betrachtete auch die katholische Kirche die Leibesfrucht bis zu ihrer ersten registrierbaren Bewegung für leblos (foetus inanimatus), für lebend (foetus animatus) dagegen erst nach ihrer ersten Regung. Interessant, daß Aristoteles das Lebendigwerden bei männlichen Föten für den vierten Monat nach dem zur Empfängnis führenden Akt ansetzt, während er diesen Moment bei weiblicher Leibesfrucht schon für den dritten Monat annimmt.

Vor noch gar nicht so fernen Zeiten also verschmolzen der Anfang des Lebens, das “Lebendigwerden”, und dessen Ende in unseren Augen spiegelbildartig mit der ersten und letzten selbständigen Bewegung.

 

Dürfen wir den Augenblick der Empfängnis als Anfang unseres Menschseins betrachten?

Manche Kirchen betrachten heutzutage den Augenblick der Empfängnis als den Anfang menschlichen Lebens. Diesen ihren Glauben leiten sie nicht aus der Offenbarung ab, sondern aus der eigenartigen Deutung neuer biologischer Kenntnisse. Dahinter könnte sich auch mangelndes Wissen verbergen. Am liebsten berufen sie sich auf die moderne Biologie. Das klingt aus dem Mund von Repräsentanten der Kirche, die ansonsten daran glauben und sich dazu bekennen, daß der Mensch Körper und Geist sei, besonders komisch. Ja, den Geist, unser Menschsein, das Entscheidende unseres menschlichen Wesens, durch die wir den Tieren überlegen sind, halten sie nicht für einen Bestandteil des Körpers. Sie lehren, daß die Seele ewig sei oder ewig lebe, daß sie den Körper überlebe, den Toten verlasse. In der Frage allerdings, wann sich die Seele in den Körper einnistet, gibt es keine einheitliche kirchliche Lehre. Die katholische Kirche, die die Geltung der Menschenrechte gern bis hin zum Augenblick der Empfängnis ausdehnen würde, legt sich auch selbst nicht fest, in welchem Stadium der embryonalen Entwicklung “das Strömen der Seele in den Körper” geschieht.

Physiologisch können wir nicht vom Augenblick der Empfängnis sprechen, denn jedes biologische Phänomen, so auch die Empfängnis, ist ein Entwicklungsprozeß. Die Empfängnis ist der Vereinigungsprozeß zweier lebender Zellen und nicht etwa die Neuentstehung von Leben.

Vor Pasteur wurde der Begriff der Neogenese, wonach unter entsprechenden Bedingungen aus leblosen Stoffen ständig und jederzeit Leben entstehen kann, allgemein akzeptiert. Diese als gesichert angenommene These ging von Beobachtungen aus wie beispielsweise denen, daß aus einem Kadaver oder einem Fleischstück binnen weniger Tage Hunderte von Würmern ausschlüpfen und auf einer liegen gelassenen Scheibe Brot Schimmel entsteht.

Erst mit der Entdeckung des Mikroskops mußten die Wissenschaftler verblüfft feststellen, daß die mit bloßem Auge nicht sichtbaren lebenden Formen oder die für die Kontinuität des Lebens leblos scheinenden Vermittler, die Sporen, fast überall in unserer Umwelt anwesend und unter ensprechenden Umständen fähig sind, sich zu vermehren, zu wachsen oder in ein anderes, ein besser zu bemerkendes, lebhafteres, Stadium ihres Lebenszyklus einzutreten. So wird die Milch beispielsweise durch die Vermehrung der nahezu überall, auch am Euter der Kuh, vorhandenen Laktobazillen sauer. Das kann – ebenso wie die von kranken Kühen übertragbare Tuberkulose – durch das Aufkochen der Milch verhindert werden. Auch aus rohem Fleisch kriechen keine Würmer, wenn es vor Fliegen gschützt wird, die ihre für das bloße Auge unsichtbaren, winzigen Eier darin ablegen.

Tausende von Versuchen folgten diesen Beobachtungen. Aufgrund der sich auf die Ergebnisse stützenden theoretischen Argumente ist eine allgemein akzeptierte Grundthese der Biologie entwickelt worden, wonach die Entstehung einer lebenden Form, wie vor Millionen von Jahren auf unserem kleinen Planeten geschehen, ein fast unwahrscheinliches, wunderbares Ereignis ist. Seither reproduziert sich das Leben gemäß seiner spezifischsten Eigenart selbst. Manchmal auch “fehlerhaft”, wenn es neue, mutierende Formen zustande bringt, die sich besser an die im Wandel begriffene Umwelt anpassen als die Vorläufer. So hat sich die lebende Welt im Laufe von Millionen Jahren ausgebreitet, verändert, entwickelt und differenziert.

Die Erfindung des Mikroskops hat nicht nur falsche Überzeugungen zerstreut, sondern auch zu neuen geführt. Als in der Samenflüssigkeit das Wimmeln von Millionen von Spermien entdeckt wurde, die selbständige Beweglichkeit jeder einzelnen Samenzelle, glaubte man, sie würden mit ihrem peitschenartigen “Schwanz” schlagende Bewegungen wie Fische ausführen, und man gelangte zu der Einsicht, daß jede Samenzelle für sich genommen eine “lebende Form” sei. Heute wissen wir bereits, daß die Samenzelle wirbelt wie eine Schiffsschraube. Die Beobachter verfielen nun von einem Extrem ins andere und begriffen das Spermium nicht nur als ein Lebendes, sondern stellten sich unter jeder Samenzelle ein winziges, mit dem Mikroskop nicht wahrnehmbares Menschlein vor, einen “Homunkulus”, der nur gemäß seinen Größenverhältnissen in der Gebärmutter wächst.

Die Vorstellung, derzufolge die Rolle der Frau bei der Vermehrung einfach in der Annahme und Ernährung des im Samen des Mannes verborgenen Lebens besteht, wie auch die Erde den Samen der Pflanzen aufnimmt und nährt, war schon lange vor der Erfindung des Mikroskops bekannt. Die Entdeckung der sich in der Samenflüssigkeit bewegenden, also lebenden Samenzellen hat diese Vorstellung zweifellos populär gemacht.

Diese uralte Präformationstheorie wurde allerdings durch die sich schnell entwickelnde mikroskopische Embryologie, die nachwies, daß die frühen Embryonen der meisten Tiere morphologisch voneinander nicht zu unterscheiden sind, infrage gestellt. Keine der zur Befruchtung bereiten Eizellen, die sich in der Mitte des weiblichen Zyklus infolge des Follikelsprungs auf den Weg begeben, enthalten “winzige Menschlein”. Die Eizelle ist nur deshalb um ein Hundertfaches größer als die Samenzelle, weil sie außer dem Zellkern all die Nährstoffe enthält, die so lange zur Zellvermehrung notwendig sind, bis sich das frühe Embryo in die Gebärmutterwand, von der die Ernährung übernommen wird, einnistet. Ebenso enthält die Eizelle all die Mitochondrien, die RNS usw., die zur Zellteilung und dem Lebenserhalt des Zellhaufens, zur Energieversorgung in den ersten Stunden und Tagen nach der Befruchtung notwendig sind, wenn die DNS der Samenzelle in der Bestimmung der Struktur der Eiweißstoffe noch keine Rolle spielt. Nebenbei sei angemerkt, daß jedes einzelne Mitochondrium der zur Energieversorgung all unserer Zellen bis an unser Lebensende aus den DNS kodiert wird, die noch vor der Befruchtung in der Eizelle vorhanden gewesen sind.

Es kann also keine Rede sein vom Wachstum einer auch in seinem Keim erkennbaren Form – in unserem Fall eines winzigen Menschleins -, sondern von einem Entwicklungsprozeß, der in eine lebende Zelle, in eine Eizelle programmiert worden ist. Als erstes ist lediglich eine Zellvermehrung zu beobachten. Aus der Teilung der befruchteten Eizelle bildet sich ein Zellhaufen heraus (die ursprünglichen Stammzellen), der über keinerlei für die Art oder das Geschlecht typische Form verfügt. Erst durch die DNS der Samenzelle beginnt der väterliche Beitrag in diesem Prozeß. Anschließend setzt die Morphogenese ein: die allmähliche Herausbildung der Organe und Körperteile, was beim Ausbrüten im warm gehaltenen Ei oder in der Gebärmutter für gewöhnlich zur Entfaltung der verschiedenen tierischen und menschlichen Formen führt.

Heute sind uns schon alle determinierenden Momente dieses wunderbaren Entwicklungsprozessews bekannt. Beispielsweise wissen wir, daß das Embryo nicht nur um immer wieder neue Zellen wächst und sich entwickelt, sondern daß die Gewebeteile, denen in diesen Vorgängen nur eine Mittlerrolle zukommt, resorbiert werden. In der Architektur entspricht das beim Bau eines Gewölbes dem Stützgerüst, das nach Beendigung der Bauarbeiten entfernt wird. Die für die weitere Entwicklung überflüssig gewordenen Zellen “töten” und zersetzen sich in einem merkwürdigen Geschehen, das Apoptose genannt wird, selbst. Man könnte sagen, sie opfern sich für das Gemeinwohl und werden zu Nährstoffen der sie umgebenden Zellen.

 

Der Prozeß der Menschwerdung (Gradualismus)

Aufgrund unserer heutigen Kenntnisse können wir also die Theorie der Neogenese, derzufolge wir alle aus leblosem Stoff (“de novo”) entstehen, verwerfen. Das heißt, jene Auffassung, daß die Zygote, die Embryoanlage, die Wiederholung jenes Wunders, durch das vor Jahrmillionen das Leben auf unserem Planeten entstanden ist, aus leblosem Stoff geschaffen worden wäre. Verwerfen können wir auch die Theorie der Präformation, wonach wir ohne wesentliche morphologische Veränderungen von einem winzigen Menschlein, einem Homunkulus, einfach nur so zu einer Leibesfrucht und schließlich zu einem Menschen heranwachsen.

Im Hinblick auf die Euthelie, die Kunst des schönen Sterbens, ist es äußerst wichtig, daß wir die Kontinuität des Lebens und all das, was es voraussetzt und beinhaltet, zur Kenntnis nehmen und begreifen, nämlich daß sich das Leben unserer Mutter in einer lebenden Eizelle, die sich von Eierstock unabhängig macht, fortsetzt, während dies für das Leben unseres Vaters auf eine der vielen Millionen seiner lebenden Samenzellen zutrifft, die von der Eizelle aufgenommen wird. Doch da sich zu diesem Zeitpunkt der väterliche Beitrag noch nicht zum genetischen Code dieser Zelle oder Zellgruppe äußert, können wir kaum von einem neuen menschlichen Individuum sprechen. Aus dieser Vereinigung bildet sich jedoch allmählich, wenn alles seinen normalen Gang nimmt, innerhalb von zirka anderthalb Tagen eine Lebensform heraus, die zum kleineren Teil vom genetischen Code des Vaters bestimmt wird, also bereits der Fortsetzung beider Leben entspricht. Aus der Zygote, dem nach der Verschmelzung der Geschlechtszellen entstehenden organischen Verband, entwickelt sich schrittweise der Blasenkeim, die Blastula, schließlich der Embryo, den wir vielleicht schon als den Anfang eines neuen menschlichen Wesens bezeichnen können, und daraus die menschliche Leibesfrucht, aus der das Neugeborene entsteht. Das heißt, aus einer Zelle werden wir fortlaufend in meßbaren kleineren und größeren Schritten zum Menschen. Ebenso, wie auch unsere Art im Laufe der Evolution allmählich zum Menschen geworden ist. Von Stufe zu Stufe entwickelt sich das Neugeborene zum Kind, zum Halbwüchsigen, zum Pubertierenden, zum emsigen, schöpferischen Erwachsenen, der meist auch Kinder zeugt, zu fürsorglichen Eltern, zu Onkel und Tante, zu Großeltern. Diese neue Anschauung, die wir Gradualismus nennen können, hilft uns, das Altwerden und auch den Tod als Teil dieses Prozesses anzunehmen.

Auch im Fall der Zelle können wir von einem schönen Tod sprechen, von der bereits erwähnten Apoptose, das heißt dem programmierten Zelltod, der in den Genen kodiert ist und von ihnen initiiert wird. Wenn eine Zelle in einem Zellverband nicht mehr fähig ist, der Entwicklung zu dienen oder wenigstens eine erhaltende Rolle zu spielen, beseitigt sie sich selbst. “Gut” an diesem Phänomen, dem Zelltod, in dem auch die bei der normalen Vernichtung der großen Mehrheit der im Erwachsenenalter entstandenen Krebszellen eine wichtige Rolle spielen, sind die “Selbstmordzellen”, die den überlebenden alles hinterlassen, was sie während ihres Lebens an chemischen Schätzen angesammelt haben. Sie machen neuen Zellgenerationen Platz, die sich dem Zellverband, der in seiner Entwicklung neuen Herausforderungen entgegensieht oder neue Aufgaben übernimmt, besser anpassen.

Jede einzelne mit der Befruchtung einsetzende Zellteilung ist auch für sich genommen ein wunderbarer Vorgang. Einige Tage lang geht sie ohne äußere Nahrungsquellen vor sich, bedient sich lediglich der in der Eizelle gspeicherten Nährstoffe. Doch damit der Zellhaufen überleben kann, muß er, nachdem er sich in die Gebärmutterwand eingenistet hat, dann auch aus dem mütterlichen Organismus Nahrung gewinnen, um weiter wachsen zu können.

Ein kritischer Schritt besteht in der Herausbildung der inneren Organe und der gleichfalls vorübergehende Dienste leistenden Plazenta. Der Mutterkuchen entzieht dem mütterlichen Blutkreislauf nicht nur all das, was der Fötus braucht – angefangen vom Sauerstoff über die Aminosäuren und Kohlehydrate bis hin zu den Vitaminen -, sondern produziert auch die schwangerschaftsfördernden und -erhaltenden Hormone. So lebt der Fötus im vornehmsten Sinne des Wortes als Parasit, als “Fremdkörper” in der Gebärmutter. Deren Fürsorge nimmt er nicht nur an, sondern die von den eigenen Zellen produzierten Hormone zwingen den “Gastwirt” sogar zum Unterhalt. Diese Wirkung dürfen wir auf dem Weg unserer stufenweisen Menschwerdung gleichfalls als bedeutenden Schritt betrachten. Es ist also offensichtlich, daß die Befruchtung in diesen Vorgängen nur einer der unvermeidlich notwendigen Schritte und wunderbaren Ereignisse ist.

Manche Religionslehren – vor allem die der katholischen Kirche – sind bemüht, ihren heutigen Standpunkt, wonach die Geltung der Menschenrechte auf den Moment der Empfängnis ausgedehnt werden müsse, zu unterstreichen, indem sie vom Entstehen einer neuen Genkombination reden, vom Zustandekommen eines genetisch neuen Individuums. Diese neue Genkombination identifizieren sie mit dem Begriff des Individuums, der Persönlichkeit oder gar der Identität. Interessant, daß das in einer ohnehin schon allzu materialistischen Welt ausgerechnet von einer Kirche verkündet wird, die früher unser seelisch-geistiges Sein, wodurch sie uns früher von den Tieren unterschied, als Äußerung unserer menschlichen Individualität hervorgehoben hat. Nach unseren Kenntnissen wird die Individualität aber nicht von den Genen, die die Aminosäuresequenz unserer Eiweißstoffe kodieren, bestimmt.

Mit dem Standpunkt der Kirchen müssen wir uns nicht nur wegen derjenigen beschäftigen, die den religiösen Lehren folgen wollen, sondern auch deshalb, weil beispielsweise die katholische Kirche mit großem Nachdruck den eigenen Gläubigen, aber nicht nur ihnen, vorschreiben möchte, wie sie sich zu verhalten haben, was ihnen erlaubt ist und was nicht. Und das über die zehn Gebote und Jesu eigenes Gebot, sein einziges, hinausgehend: “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!” Unter Einflußnahme auf den Gesetzgeber ist die katholische Kirche auch um eine Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts derjenigen bemüht, die die mosaischen Gesetze oder Jesu Lehre unter Berücksichtigung viel strengerer ethischer und moralischer Normen als früher und weiterreichender gesellschafts- und naturwissenschaftlicher Kenntnisse interpretieren oder eben einer strengeren Morallehre folgen. Natürlich brauchen auch die katholischen Gläubigen eine Überprüfung dieser Fragen, insbesondere deshalb, weil die Kirche in ihren bioethischen Thesen, in der Beschränkung der Selbstbestimmungsrechte der Gläubigen sich nicht nur auf theologische, sondern in zunehmendem Maße auch auf biologische Lehren beruft.

***

Um der biologischen Anschauungen willen sei an dieser Stelle die sozusagen einhellige Verurteilung von Abtreibung und Verhütungsmitteln seitens verschiedener Kirchen angesprochen. Weder biologische noch psychologische Begründungen sind für eine solche Haltung akzeptabel. Aber selbst theologische Argumente scheinen wenig überzeugend zu sein. Es liegt auf der Hand, daß die unzulässig hohe Zahl an Abtreibungen einzig durch einen leichteren Zugang zu wirkungsvolleren Verhütungsmethoden verringert werden kann. Auch müßte eine entsprechende Massenaufklärung und -unterweisung stattfinden. Der feindselige Standpunkt des Vatikans gegenüber den effektiven Methoden der Schwangerschaftsverhütung ist schlicht unbegreiflich. Das allein schon deshalb, weil die katholische Kirche die psychologisch vielleicht am wenigsten annehmbare Technik, die “Rhythmusmethode”, die Knaus-Ogino-Methode, unterstützt. Bewußt nenne ich diese Methode nicht Schwangerschaftsverhütung, sondern Schwangerschaftseinschränkung. Denn die Möglichkeit einer Schwangerschaft kann bei einem solchen in seiner Häufigkeit zurückhaltenden Geschlechtsleben nur in geringem Umfang zurückgedrängt werden. Sowohl theoretisch wie auch praktisch.

Die Rhythmusmethode verlangt von der Frau, sich in jenem Abschnitt der Menstruationsperiode, da der Geschlechtsakt zur Befruchtung der reifen Eizelle führen kann, zu enthalten. Allerdings wissen wir nicht, wie lange die Samenzellen im weiblichen Körper befruchtungsfähig bleiben. Physiologische Studien sprechen von drei bis fünf Tagen. Doch in der Biologie begegnen wir oft Ausnahmen, die eine solche Regel sinnlos erscheinen lassen. Eine Empfängnis ist also selbst dann nicht mit vollkommener Sicherheit auszuschließen, wenn sich eine Frau schon fünf bis sechs Tage vor der Ovulation des sexuellen Kontakts enthält.

Warum die katholische Kirche ausgerechnet dieser unzuverlässigen Methode ihren Segen erteilt hat, ist unverständlich, zumal dadurch die intime Beziehungspflege, die auf Liebe und wechselseitiger Sehnsucht (und nicht etwa auf Beobachtung des Kalenders)basiert, viel verworrener eingeschränkt wird als mittels der effektiveren Empfängnisverhütungsmittel. Ob nun Samenzellen wegen der Benutzung eines Präservativs oder wegen der Verweigerung der geschlechtlichen Vereinigung nicht zur reifen Eizelle gelangen, ist absolut gleichgültig, da sie so oder so zugrunde geht. Sollte aber das Ziel der Kirche darin bestehen, die Eizellen am Leben zu erhalten, müßten alle geschlechtsreifen Mädchen und alle vor der Menopause, dem Klimax, stehenden Frauen moralisch verpflichtet werden, in der Mitte jedes einzelnen Menstruationszyklus den Geschlechtsakt zu vollziehen. Nur so könnten wir die reife Eizelle, die die Möglichkeit des Menschwerdens in sich trägt, vor dem sicheren Untergang bewahren.

Dabei hat es noch nicht einmal einen Sinn, den Blasenkeim, der aus der auf die Befruchtung folgenden Zellvermehrung hervorgeht, als Menschen zu schützen, da die Hälfte davon – und man kann nicht wissen, welche Hälfte – kein Teil des menschlichen Körpers sein wird. Daraus entsteht der Mutterkuchen, den wir nach der Geburt des Kindes “wegwerfen” oder eventuell für therapeutische Zwecke nutzen. Die befruchtete menschliche Eizelle, ja, auch der daraus hervorgehende Blasenkeim unterscheiden sich in ihren äußeren Merkmalen oder funktionalen Eigenschaften in nichts von der Eizelle oder dem Blasenkeim anderer Tiere. Zwar unterscheidet sich der Genbestand der menschlichen Geschlechtszellen um ein paar Prozent von dem aller anderen Säugetiere, doch sämtliche Gene, das heißt das Genom eines Menschen, unterscheiden sich gleichfalls vom genetischen Code anderer Menschen.

Manche versuchen, aufgrund der genetischen Individualität den Beweis dafür zu erbringen, daß die befruchtete Eizelle, dessen Genom sich von dem beider Eltern unterscheidet, beziehungsweise der daraus hervorgehende Präembryo ein gegebenes Einzelwesen repräsentiert, das heißt, dessen Anlage enthält. Deshalb sei die befruchtete Eizelle als Mensch zu betrachten, als Person, als Persönlichkeit. Obwohl die Gesellschaft, der Staat, die Behörden von einem solchen Menschen keine Kenntnis besitzen können, repräsentiere die befruchtete Eizelle den gleichen Wert, verdiene denselben Schutz wie jeder Mensch, der in die Gesellschaft aufgenommen worden sei und deren Bestandteil bilde. Ein solches Denken ist der Natur fremd.

In einem beträchtlichen Teil der Fälle entwickelt sich das Präembryo nicht einmal zu einem Embryo. Wir können nicht ermessen, wieviel Prozent der befruchteten Eizellen oder der daraus entstehenden kleinen Zellgruppen sich weiter entwickeln, da es für einen solchen frühen Abbruch der Entwicklung – wie auch für die Befruchtung selbst – keine wahrnehmbaren Anzeichen gibt.

 

Die biologischen Begriffsbestimmungen des einzelnen,
der Person oder des Individuums

Mit dem Vorgang der Empfängnis als solchem entsteht also kein neues Leben. Seit Jahrmillionen ist das Leben auf der Erde ununterbrochen vorhanden. Ebenso wie jede der vielen Millionen Samenzellen lebt auch die Eizelle vor ihrer Befruchtung. Eine kleine Gruppe der Samenzellen ist an der Befruchtung beteiligt. Der Genbestand einer von ihnen trägt zur Herausbildung eines oder mehrerer neuer, in den meisten Fällen genetisch von allen anderen Individuen der Rasse sich unterscheidenden Individuums bei. Zur Herausbildung eines oder mehrerer Einzelwesen, sage ich, weil sich die während der ersten Vermehrungen der aus der Eizelle sich entwickelnden und aus vier oder acht Zellen bestehenden Gruppe aus bis heute unbekannten Gründen teilen kann beziehungsweise daraus ein bis zwei Zellen lösen können, woraus sich die eine oder andere lebensfähige Leibesfrucht oder ein eineiiges Zwillingspaar entwickeln kann.
Genetisch spreche ich von “sicherlich unterschiedlichen” Individuen, denn theoretisch kann zwar jede Menge an Genkombinationen existieren, dennoch ist diese Zahl innerhalb einer Spezies endlich. Wir haben keine Ahnung, wieviele menschliche Genkombinationen existieren können. Die Forscher sind sich noch nicht einmal darin einig, wieviele Gene, die in den letzten Jahren irgendwo zwischen 25.000 und 100.000 angesetzt worden sind, uns bestimmen. Sofern Gene – über die augenfälligsten Merkmale wie Haut-, Haar- und Augenfarbe hinausgehend – tatsächlich unsere individuellen Eigenschaften bestimmen. Beispielsweise wissen wir, daß unser Gewicht und unsere Körpergrüße auch durch unsere Ernährung der frühen Jahre beziehungsweise auch später beeinflußt werden. Was ich jedoch für mein menschliches Ich, für meine Identität halte, was mich zum einzelnen, zum Individuum macht, wird kaum durch diese Äußerlichkeiten bestimmt, die sich teils auch im Laufe des Lebens verändern können.
Mein bewußter und unbewußter Erinnerungsspeicher, all das, was mir widerfährt, was ich gesehen, gehört, gelesen und erlebt habe, auch meine Gefühle, meine Bindungen an eine Familie, ein Volk, eine Kultur, machen mich zu dem, der ich bin. Auf all diese Momente haben unsere Gene nach heutigem Wissensstand keinen entscheidenden Einfluß. Der Theorie des ein Gen-ein Enzym zufolge kann das genetische Erbe der befruchteten Eizelle die für unser Ich bestimmenden Erlebnisse, Erinnerungen und Kenntnisse nicht in sich tragen. Unsere gegenwärtigen biologischen Kenntnisse suggerieren also, zumindest mir, daß unser sogenanntes kollektives Bewußtsein oder Unbewußtes kein genetisches, sondern ein kulturelles Erbe ist, das wir von Geburt an aufsaugen wie ein trockener Schwamm das Wasser.
Selbstverständlich können wir nicht vollkommen ausschließen, daß über die uns bekannten Gene hinaus in unseren Zellen und auch in unseren Geschlechtszellen Moleküle als Informationsträger existieren, die nicht unbedingt die klassische Mendelsche Gesetzmäßigkeit der Vererbung befolgen. Zwar glaube ich an die Möglichkeit vererbten Wissens, doch kann ich mir keineswegs vorstellen, daß diese sich auch auf detaillierte Erinnerungen und Informationen erstrecken könnte. Ich kann höchstens vermuten, daß sich alltägliche Kenntnisse und Bilder, die sich um sehr winzige ererbte uralte Wissensfragmente organisieren, als detaillierte, vielleicht sogar aus vorangegangenen Leben ererbte Erinnerungen erscheinen mögen. Vielleicht auf eine Weise, wie ein winziges Salzkorn, das in einen Kübel gesättigter Salzlösung geworfen wird, einen Prozeß einleiten kann, woraus sich ein wunderschöner riesiger Kristall bilden kann.
Für einen Augenblick wollen wir dennoch annehmen, daß irgendwann nach der Befruchtung eine bis dahin auf der Erde nie vorgekommene menschliche Genkombination zustande kommt und daß wir die erste Zelle, die diese Information in sich trägt, für den Lebensbeginn des später zur Welt kommenden neugeborenen Menschen halten dürfen. Sollten wir annehmen dürfen, daß das menschliche Sein dieses Wesens ein Ende nimmt, wenn diese individuelle Genkobination zu existieren aufhört? Irgendwann im vergangenen Jahrhundert konnte dieses Bild vom individuellen Anfang und Ende in den Augen Uneingeweihter noch glaubwürdig erscheinen, ebenso wie die Annahme, daß ein Körper leblos sei, wenn auf ihm oder in ihm keinerlei Bewegung wahrzunehmen sei, doch die Entwicklung der Wissenschaft und der Instrumente hat solche jahrtausendealten Kriterien von Leben und Tod widerlegt.
Selbst wenn wir einen Teil der Erinnerungen, die für unser wahres menschliches Ich bestimmend sind, in einem gewissen Maß für ererbt halten, verwischt sich die Bestimmung des biologischen Ichs aufgrund eines Genoms zusehends, da es immer mehr Menschen gibt, deren Körper wegen einer Organtransplantation oder vorübergehend nach einer Bluttransfusion genetisch nicht mehr homogen ist. Zu einem gleichfalls genetisch nicht homogenen Zustand können die Zuführung und Implantation embryonaler Stammzellen in den Mutterleib führen. Ein vor nicht langer Zeit von Forschern erkanntes Phänomen.
Die natürliche Reaktion unseres biologischen Ichs, unseres Immunsystems besteht im Abstoßen eines fremden Organs, dessen genetische Identität uns fremd ist. Wer mit dem Organ, den Organen eines anderen lebt, ist bis zu seinem Tod gezwungen, sein Immunsystem mittels Medikamenten zu bremsen. Verweigert er deren Einnahme, wird der eigene Körper zu seinem aktiven Mörder. Eine Ausnahme bildet die Hornhaut. Da sie keine Blutgefäße besitzt, erhalten die im Blut kreisenden Aufklärungs- und Exekutivzellen des Immunsystems keine Kenntnis vom fremden Körperteil.
Eine Transplantation ist auch die Bluttransfusion, denn für einige Wochen und Monate erhalten uns die Zellen von jemand anderem am Leben, schützen uns, bis die von unserem eigenen Organismus produzierten Zellen erneut die ihnen zugedachte Rolle übernehmen. In einer solchen Phase ist unsere biologische Persönlichkeit für Wochen und Monate heterogen, solange deren Homogenität nicht durch das Aussterben der fremden Zellen wieder hergestellt wird.

 

Die Unsicherheit des biologischen Begriffs vom einzelnen

Im heterogenen Zustand verwischen sich nicht nur die begrifflichen Grenzen zwischen biologischer Identität und Tod. Auch aus der Sicht gerichtlicher Identifizierung kann der Begriff der “Person”, der Identität infrage gestellt werden. Wenn beispielsweise wegen eines Verbrechens oder einer Vaterschaftsklage für eine DNS-Analyse nach einer Bluttransfusion eine Blutprobe abgenommen wird, kann eine “biologische Schizophrenie” angenommen oder vermutet werden, daß in einem einzigen Körper zwei Wesen, zwei Personen leben, die sich biologisch voneinander unterscheiden lassen. Die DNS-Untersuchung der am Schauplatz des Mordes gefundenen Speichelprobe kann einen schon längst unter der Erde liegenden Lungenspender in Verdacht bringen.
Heutzutage gibt es immer mehr Menschen, die von implantierten Konstruktionen oder außerhalb des Körpers, extracorporal, funktionierenden leblosen Apparaten am Leben erhalten werden, die ein bisher für unentbehrlich gehaltenes menschliches Organ ersetzen oder dessen aufgetretenen Mängel beheben. Man denke beispielsweise an die künstliche Niere, den Dialyseapparat, der dazu dient, die giftigen Nebenprodukte des Stoffwechsels zu entfernen. Wenn die Nieren dauerhaft funktionieren, halten sie die im Organismus vorhandenen Stoffwechselnebenprodukte, die mit dem Leben unvereinbar sind, auf einem niedrigen Niveau. Wenn die Funktion der Nieren unzureichend ist, sammeln sich die Giftstoffe innerhalb von zwei bis drei Tagen im Blut und in anderen Körpersäften an. Der Körper, so kann man sagen, bewegt sich auf den Tod zu. Während der Dialyse nimmt die Menge der schädlichen, lebensgefährlichen Giftstoffe innerhalb einiger Stunden ab, und es stellt sich wieder das mit dem Leben vereinbare Niveau ein. Das heißt, der Patient kann nach wöchentlich zwei oder gar drei Dialysen ins Leben zurückkehren. Ohne derartige Behandlungen würde ihn der sichere Tod ereilen.
Die Entwicklung der Medizin und der Biotechnologie können nicht nur zur Korrektur der von Krankheiten verursachten Schäden menschliche Hybriden hervorbringen, in denen sich genetisch unterschiedliche, zu jeweils anderen Generationen gehörende Organe und Gewebe miteinander vermischen können, sondern auch Individuen, Retortenbabys, die genetisch mit der leiblichen Mutter nichts zu tun haben. Es ist sogar vorstellbar, daß das eineiige Zwillingsgeschwisterkind eines Neugeborenen von einer anderen Mutter zur Welt gebracht wird; vielleicht sogar Monate oder Jahre später.
Schon in unseren Tagen hat also der traditionelle biologische Begriff, demzufolge ein zur Welt kommendes menschliches Wesen das Produkt einer aus dem geschlechtlichen Kontakt der Eltern stammenden individuellen Genkombination ist und die Grundanlage und -funktion sämtlicher Zellen aller Organe das ganze Leben über von ein und demselben Genom bestimmt wird, nicht immer einen Sinn.

 

Dürfen wir unser Gesicht als Spiegel, als wesentlichste Komponente unserer biologisch-psychologischen Identität betrachten?

Hinausgehend über die genetische Heterogenität haben die ständig zunehmenden Möglichkeiten der Organ- und Gewebetransplantation zu einer Entwicklung geführt, die emotional viel grundlegender als bisher die Frage nach dem Wesen der Identität, des Ich-Bewußtseins aufwirft. Jüngst ist die amerikanische Cleveland Klinik mit der Nachricht an die Öffentlichkeit getreten, daß sie noch für den Herbst 2005 eine Gesichtstransplantation plane, wie sie bisher nur in den literarischen Bereich der Science Fiction gehörte. In den Medien wird seither darüber spekuliert, wie jemand reagieren mag, wenn ihn aus dem Spiegel plötzlich das Gesicht eines anderen anblickt oder wenn ihn sein bester Freund auf der Straße nicht erkennt. Es ist aber auch vorstellbar, daß ihm ein guter Freund des verstorbenen Spenders um den Hals fällt, um über dessen Rückkehr aus dem Grab seine Freude zum Ausdruck zu bringen. Natürlich könnte es ebenso passieren, daß der mit dem transplantierten Gesicht vor dem Unbekannten oder umgekehrt der Unbekannte vor dem tot Gewähnten die Flucht ergreift.
Doch es ist zu erwarten, daß sich die Lage komplexer gestaltet. In Versuchen, in denen das Gesicht eines Toten einem anderen Toten transplantiert worden ist, hat sich bereits gezeigt, daß das überpflanzte Gesicht teils die Züge des neuen Trägers annimmt. Daß dem so ist, folgt daraus, daß unsere Gesichtszüge zu einem guten Teil von den Gesichtsmuskeln und der Knochenstruktur bestimmt werden. Zumindest in den Anfängen kann davon ausgegangen werden, daß beispiesweise durch Brandwunden entstellte Gesichter eine neue Haut erhalten. Die Wahrscheinlichkeit, daß mit dem operativen Eingriff ein neues Gesicht entsteht, ist dennoch groß. Wer wegen seiner “Gesichtslosigkeit” lange von den Menschen gemieden worden, ein Ausgestoßener gewesen ist, und nun wieder ein normales Äußeres erhält, für den wird das Leben wieder lebenswert. Die Charakteristika seines transplantierten Antlitzes dürften eine eher untergeordnete Rolle spielen. Die Übergangsidentität wirkt vermutlich in solchen Fällen störend, wenn sich die Umgebung noch lebhaft an die ursprünglichen Züge, den Teint und die Warzen des alten Gesichts erinnert. Dank einer guten Wahl des Spenders wird das Gesicht oftmals nur Abweichungen vom Original aufweisen, die geringer ausfallen könnten als bei bisherigen Eingriffen der plastischen Chirurgie.
Noch wichtiger bei der Entscheidung für einen Geber wird die Immunkompatibilität sein. Denn unsere Psyche ist viel eher geneigt, das Fremde zu akzeptieren als das Immunsystem, das sich dessen bewußt ist, was zum Eigenen gehört, unser Ich ist, und was ein Fremdkörper ist. Der Träger des fremden Gesichts muß also bis an sein Lebensende die immunsupressiven Drogen einnehmen, muß sich dessen bewußt sein, daß das Schutzsystem seines Körpers sonst das transplantierte Gesicht angreifen und vernichten kann.
Offensichtlich bedarf es also neuer Überlegungen, Bewertungen und einer Revision unseres Verständnisses, was wir unter physiologischer und psychologischer Identität zu verstehen haben.
Und natürlich müssen wir unter Berücksichtigung all dessen auch untersuchen, von welchem Punkt an wir den Anfang eines Menschenlebens setzen, das Zustandekommen des Selbstbewußtseins und der Identität. Ebenso gilt es, die Frage zu klären, was das Ende markiert, das Verscheiden der Person, und den Augenblick im Leben eines Menschen, mit dem der Tod einsetzt. Oder aber können wir nach dem gegenwärtigen Stand der Biologie überhaupt von einem Augenblick sprechen, der für den Anfang und das Ende des Lebens steht?

 

Der bis zum Tod andauernde Entwicklungsprozeß der in der Eizelle, der Embryoanlage, steckenden Möglichkeit und unseres Menschwerdens

Sofern in manchen Standpunkten die Möglichkeit, die Potentialität des Menschwerdens als zu schützender Wert betrachtet wird, worauf gewisse kirchliche Äußerungen hindeuten, müßte dabei berücksichtigt werden, daß das größte und am wenigsten einsehbare menschliche Potential, das heißt die existierende Möglichkeit, zweifellos der noch nicht befruchteten Eizelle innewohnt. Gerade dann ist darin die Möglichkeit vorhanden, eine Mutter und ein Vater zu werden, ein Albert Schweitzer, eine Mutter Teresa, ein Beethoven, ein Einstein, ein Puskás, ein Zatopek oder ebenso ein Hitler und ein Stalin. Das heißt noch bevor die Eizelle auf die Vielzahl der Samenzellen stößt und darunter auf ihren Befruchter.

Auch unabhängig von der Aufnahmebereitschaft des weiblichen Körpers ermöglicht die Befruchtung vorübergehend das biologische Überleben der Eizelle. Zugleich senkt sie drastisch das Spektrum ihrer Möglichkeiten und Perspektiven; sobald sie von einer Samenzelle befruchtet wird, entscheidet sich beispielsweise, ob die Zellen desjenigen, der sich aus der Eizelle entwickeln kann, zwei X-Chromosomen oder ein X- und ein Y-Chromosom enthält, zu deutsch, ob der Nachkomme also männlichen oder weiblichen Geschlechts sein wird. Diejenige Eizelle, die von einer Samenzelle mit einem Y-Chromosom befruchtet worden ist, hat die Chance der Mutterschaft eingebüßt. Die zwei X-Chromosomen dagegen bewirken, daß der Nachkomme mit Sicherheit kein Vater werden kann. Auch die Palette der genetisch bestimmten sonstigen Gegebenheiten wird großenteils dadurch eingeengt, von welcher der wimmelnden Millionen Samenzellen die Eizelle befruchtet wird. Doch am ehesten wird das mögliche genetische Spektrum des aus einer gegebenen Eizelle stammende Individuum bereits vor dem Geschlechtsakt durch die Partnerwahl eingeengt. Denn selbst die Millionen Spermien eines Mannes repräsentieren lediglich einen Bruchteil der existierenden menschlichen Genkombinationen.

Zweifelsohne schrumpfen mit der Befruchtung die in der Eizelle existierenden Möglichkeiten. Nicht nur aus der Sicht der genetisch bestimmten Eigenschaften des einzelnen, der daraus hervorgehen kann. Großenteils entscheidet sich mit dem Zustandekommen dieser Genkombination, bis zu welcher Station der embryonalen Entwicklung die Eizelle, genauer gesagt nach der Befruchtung bereits die Zygote, lebensfähig sein wird. Es kann passieren, daß gerade die Befruchtung die Eizelle infolge einer Samenzelle, die vielleicht ein fehlerhaftes Gen enthält, um die Möglichkeit des Menschwerdens bringt.

Die Befruchtung können wir also auf gar keinen Fall für die Erfüllung der Potentialität halten, für das einzige oder gar höchste Moment der Menschwerdung. Im Gegenteil, im unaufhörlich sich wiederholenden Zyklus des Lebens ist dieser Moment nur einer in der langen Reihe der Ereignisse. Wir können ihn für einen bestimmenden, unausweichlich wichtigen Schritt halten, für einen Meilenstein, doch in der Entwicklung der befruchteten Eizelle, der Zygote, zum Menschen gibt es noch viele kritische Schritte. Die erste Zellteilung ist ein solcher Schritt, später dann die aus der Zellvermehrung stammende präembryonale Differenzierung. Beispielsweise die oft schicksalhaft scheiternde Herausbildung der Organogenese, der inneren Organe. Das Überleben all solcher kritischen Phasen erhöht die Chance des Menschwerdens. Doch können wir dann im Entwicklungsprozeß, der mit der Reifung der Eizelle einsetzt, einen Punkt finden, der für unser Menschwerden bestimmender ist als irgendein anderes Ereignis der innerhalb der Gebärmutter vor sich gehenden Entwicklung? Schwerlich. Die Eizelle entspricht einer möglichen Zygote.

Zu Recht ahnen wir in der Zygote bereits die Chance des Embryos. Aus dem Embryo kann die Leibesfrucht entstehen, der Fötus, ein potentielles Neugeborenes, das ein Kind werden wird. Im Kind bewundern wir vor allem seine Möglichkeiten. Früher oder später entdecken die Heranwachsenden in sich verschiedene Anlagen, oder aber sie erschrecken vor den Anforderungen und Ansprüchen an den Werdenden. Auch der Erwachsene hat nur körperlich seine Vollkommenheit erreicht. Es werden sich ihm noch zig Gelegenheiten bieten, sein Menschsein unter Beweis zu stellen oder es gar zu verlieren, indem er sich diesem verweigert. Die Entwicklung des menschlichen Ichs, des Verstands, des Charakters, der Seele, das heißt der “Psyche”, geht ohne Unterlaß vonstatten. Ihre Erfüllung erreicht sie vielleicht erst dann, wenn sie das Menschsein in seiner Ganzheit annimmt, inklusive der Sterblichkeit. Ja, inklusive des würdevollen Wartens auf den Tod.

Biologisch allerdings überholt unsere Entwicklung die Herausbildung unseres geistigen Wesens erheblich und erreicht vor der Erfüllung unserer Menschenwürde ihren Höhepunkt. Schon ein paar Monate vor unserer Geburt sind wir von der Leibesfrucht aller anderen Tiere leicht zu unterscheiden. Beim Kind erkennen wir zweifellos schon die physischen Charakteristika des künftigen Erwachsenen. Mit fünfzehn bis zwanzig Jahren erlangt unser Körper die typischen physischen Züge und Eigenschaften des Menschseins. Wie sich aus der Zygote kontinuierlich der Fötus entwickelt, so eignet auch unserer körperlichen Entwicklung nach der Geburt über Jahre eine Kontinuität. Auch hierin finden wir keine kritische Schwelle, die wir für eine determinierende Scheidelinie unseres biologischen Menschwerdens halten könnten.

Allerdings gibt es zwischen diesen beiden Entwicklungsprozessen, dem des Fötus und dem nachgeburtlichen, ein Moment, das für unser Menschwerden sicher ein bestimmender Schritt ist. Obwohl sich das Neugeborene in seinem Äußeren kaum von dem entwickelten Fötus unterscheidet, entspricht das nur dem Anschein. In Wirklichkeit ermöglicht erst die innere Verwandlung, eine unmittelbar nach unserer Geburt vor sich gehenden ständige Entwicklung, eine Metamorphose, unser Menschwerden. Im Grunde genommen ähnelt das der Metamorphose der im Wasser lebenden Kaulquappe, die sich in ein Wesen, einen Frosch, verwandelt, das fähig ist, durch die Lunge zu atmen und auf dem Land zu leben.

Betrachten wir den Menschen als ein selbständig auf dem Land lebendes Wesen, als das wir es ja auch betrachten müssen, so ist diese Seinsform nicht einfach die Fortsetzung des fötalen Lebens außerhalb der Gebärmutter. Denn der Fötus ist ein im vornehmsten Wortsinn von der Mutter vollkommen abhängiges parasitäres Wesen, dessen Blutkreislauf über die Nabelschnur durch die Plazenta, die an der Gebärmutterwand haftet, seine Nährstoff- und Sauerstoffversorgung sichert. Die Lunge des Fötus funktioniert nicht, was sie im Fruchtwasser auch gar nicht könnte. Im Gegensatz zum Sein auf dem Land, wo bei jedem einzelnen Kreislaufzyklus das Bluvolumen der Säugetiere in seiner Ganzheit durch die Lunge strömt, gelangt beim Fötus nur ein Bruchteil davon in die Lunge, nämlich genau so viel wie für den Stoffwechsel der Gewebe erforderlich ist.

Mit dem ersten Atemzug, wenn aus der Luft bezogener Sauerstoff in die Lunge gelangt, setzt die Verwandlung des fötalen Blutkreislaufs ein: Die Öffnung an der Seite des Herzens, durch die Lunge und andere Körperteile versorgt werden und die zur Umgehung der Lunge dient sowie eine dem gleichfalls dienende Arterie schließen sich. Die Abnormitäten, das Ausbleiben dieser Verwandlungen verursachen verschiedene Geburtsfehler. Beispielsweise das heutzutage chirurgisch behebbare Syndrom des “blauen Babys”.

Wenn alles in Ordnung ist, fließt das Blut schon unmittelbar nach der Geburt in seinem gesamten Volumen durch die Lunge, bevor es, angereichert mit Sauerstoff, in alle Teile des Körpers gelangt. Die für den Fötus typische “parasitäre” Lebensform hört also auf. Von da an verwandeln wir uns in eine Lebensform, die Luft und Nahrung durch Nase und Mund aufnimmt, im Freien lebt und sich bewegt. Damit überschreiten wir einen der bestimmendsten Grenzraine unseres Menschwerdens. Selbst pathologisch-anatomisch kann beispielsweise aufgrund des Atemkriteriums entschieden werden, ob ein tot aufgefundenes Neugeborenes tot geboren wurde oder aber einem Mord zum Opfer gefallen ist. Wird nämlich ein kleines Stück der Lunge des Leichnams in Wasser gelegt und steigt an die Oberfläche auf, weil sich Luft darin befindet, besteht der Verdacht der Tötung. Wenn das “Lungenmuster” jedoch untergeht, weil es noch keine Luft aufgenommen hat, kann angenommen werden, daß es sich um eine Totgeburt handelt. Doch auch wenn es “lebend” geboren worden ist, sein Herz geschlagen, es jedoch keine Luft eingeatmet hat (was der Säugling nicht immer aus eigenem Antrieb tut; stattdessen muß er oft stimuliert werden; beispielsweise muß ihm ein Klaps auf den Po gegeben oder Luft in die Nase geblasen werden), läßt sich nicht beweisen, ob das Neugeborene ein selbständiger Mensch geworden, ob es fähig gewesen wäre, ein autonomes Leben zu führen.

Dem ersten Atemzug kommt indes nicht nur eine solche entwicklungstheoretische und physiologische Bedeutung zu, wie sie mit der heute in allen Einzelheiten bekannten Metamorphose gegeben ist. Der erste Atemzug ist in dem seit Jahrmillionen sich ständig wiederholenden Zyklus von Geschlechtszelle-Zygote-Blasenkeim-Embryo-Fötus-Neugeborenes-Kind-Mensch-Geschlechtszelle nicht nur die erste selbständige Lebensäußerung, die “In-Gang-Setzung” des Lebens. Darüber hinaus kommt dem ersten Atemzug auch eine symbolische Bedeutung bei. Es ist anzunehmen, daß´sich auch die Weisen der Bibel des symbolischen Bezugs bewußt gewesen sind, als sie in der Schöpfungsgeschichte jenen Augenblick, als Gott seinen Atem Adam in die Nase geblasen hat, als Anfang des Menschwerdens betrachtet haben.

Diese Symbolik lebt nicht nur in den Lehren der Bibel und der Biologie, sondern auch im Bewußtsein des Volkes, wenn beispielsweise von einem Sein vom ersten bis zum letzten Atemzug gesprochen wird. Oder als Synonym des Todes, daß einer sein “Leben ausgehaucht” hat. Was mit anderen Worten heißen will, daß die für das Menschsein bestimmende Seele den Körper mit dem letzten Ausatmen verläßt. Demnach wäre also anzunehmen, daß sie mit unserem ersten Einatmen in den Körper strömt.

Heute freilich wissen wir, daß das eingeatmete Prinzip, das uns oder zumindest unseren Körper am Leben erhält, der mit bloßem Auge nicht sichtbare Sauerstoff ist, der unseren Ahnen unbekannt gewesen ist.

Die entscheidende Metamorphose, die es uns ermöglicht, ein biologisch unabhängiges Wesen zu werden, steht im Zeichen des ersten Einatmens von Sauerstoff. Halten wir aber unsere intellektuelle Entwicklung, da wir uns darin vom Tier unterscheiden, für den Maßstab unseres Seins, dann müssen wir unser Menschwerden als einen lebenslang andauernden Prozeß ansehen. Zu unserer geistigen Entwicklung tragen alle Erlebnisse, Gefühle und Taten bei, alle Kenntnisse, Schlußfolgerungen, geäußerten oder akzeptierten Meinungen, die daraus hervorgehenden und darauf aufbauenden Weltanschauungen, Glaubenssysteme, Ideologien und letztendlich auch die Weisheit.

Solange neue Erlebnisse und neue menschliche Beziehungen auf uns warten, wird sich unser Geist zweifellos weiterentwickeln, und zwar lange über die Altersgrenze hinausgehend, da unsere physischen Fähigkeiten schon längst ihren Gipfel überschritten haben, ja, sogar im Verfall begriffen sind. Ein gutes Beispiel dafür ist das Erlebnis der Mutterschaft und der Vaterschaft – ein später Meilenstein auf dem Weg unseres Menschwerdens. Oder die noch spätere, oftmals noch bestimmendere emotionale Beziehung zu den Enkeln und Urenkeln. Manch einer hat sein ganzes Leben derart für den eigenen Unterhalt und den seiner Familie geschuftet, daß sich seine Persönlichkeit erst nach der Berentung so richtig entfalten kann.

Und schließlich wartet auf uns alle der Tod, dessen Annahme oder die Unbegreiflichkeit seiner Rolle, die Leugnung seiner Unvermeidlichkeit. Der mit Würde oder schrecklicher Angst erwartete Tod kann ein entscheidendes Erlebnis in unserem Leben sein, die größte Prüfung unseres Menschseins, die Erfüllung oder Leugnung dessen, was bis zum letzten Augenblick auf uns wartet.


 

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Abraham und Isaac

English title:
Abraham and Isaac
Original title:
Ábrahám és Izsák

Translator: Pal Karpati
Published: T. Schafer Verlag